Ein älterer Herr mit Hut kniet in der Karl-Heine Straße auf dem Gehsteig vor dem Haus mit der Nummer 47. Mit routinierten Bewegungen setzt er Steinquader in den Gehweg, auf deren Stirnseite quadratische Messingplatten angebracht sind. Der Mann ist der Kölner Künstler Gunter Demnig und er verlegt gerade sechs Stolpersteine für die jüdische Familie Rosenfeld, die einst in diesem Haus lebte, bevor sie von den Nazis deportiert wurde, einige Familienmitglieder ermordeten die Nazis anschließend. Auf jeder dieser im Fußboden eingelassenen Messingplatten steht der Name eines Opfers der NS-Diktatur, sein Geburtsdatum, Datum und Zielort der Deportation und das Schicksal des Betreffenden. Sie werden vor dem letzten selbst gewählten Wohnort verlegt.
Unter den Toten der Familie Rosenfeld war auch die Tochter Berta Sophie, deretwegen heute hier rund 25 Teenager mit weißen Rosen in den Händen stehen. Es sind Schüler der Max-Klinger-Schule, die einst auch Berta besuchte. Die Jugendlichen haben im Zuge eines Projektes zur Schulgeschichte das Schicksal von Berta und ihrer Familie recherchiert und die Patenschaft für die Stolpersteine übernommen. »Dadurch, dass man ein Schicksal direkt vor Augen hat, kann man nachvollziehen, wie grausam der Holocaust war«, sagt Kevin Richter, der Mitglied der Projektgruppe war.
Auch für die ehemalige Klinger-Schülerin Rosa Szyia und deren Familie werden dank des Engagements der Gymnasiasten heute in der Schnorrstraße 20 Stolpersteine verlegt. »Unsere Schüler haben aus dem Geschichtsbuch keine echte Beziehung zu den Gräueltaten des Nationalsozialismus«, sagt Rainer Noack, der als Lehrer das Projekt mit betreute, »Jetzt waren es die Schüler ihrer eigenen Schule, die in Stutthof beziehungsweise in Belzec ums Leben gekommen sind. Da ist die persönliche Beziehung viel, viel enger.«
Und während sich bei Demnig, dem Erfinder des Projektes, nach rund 48.000 verlegten Stolpersteinen in ganz Europa sichtlich etwas Routine eingeschlichen hat, haben auch die erwachsenen Initiatoren vor Ort oft ein persönliches Verhältnis zu ihren Steinen. So werden jedes Jahr am 9. November an den verschiedenen Steinen Mahnwachen gehalten, selten bleibt einer der 265 Steine, die inzwischen in Leipzig an 118 Orten liegen, unbewacht. Auch die Schüler der Klinger-Schule werden dann ihre Steine putzen und der Opfer gedenken.
In den seltenen Fällen, in denen Steine geschändet werden, findet sich dann auch schnell jemand, der die Schäden beseitigt. Als im vergangenen Jahr Unbekannte – vermutlich aber betrunkene Fußballfans – drei Stolpersteine in der Fregestraße herausrissen, spendeten die Bewohner des Hauses und der Nachbarschaft ganz ohne Spendenaufruf so viel, dass die Steine sofort ersetzt werden konnten.
Gunter Demnig muss übrigens bald wieder nach Leipzig kommen: Die Projektgruppe an der Klingerschule recherchiert derzeit die Biografien von zehn weiteren ehemaligen jüdischen Mitschülern.