Mit der »Schlacht um Kobane« im Spätsommer 2014 bis hin zum Sieg der kurdischen Volksverteidigungskräfte gegen die Banden des sogenannten Islamischen Staats (IS) im Januar 2015 bekam der Syrienkrieg innerhalb der medialen Debatte eine neue Komponente. Rojava, wie das Gebiet im Norden Syriens von der dort lebenden kurdischen Bevölkerung genannt wird, wurde zum Synonym für das »andere Syrien« abseits islamistischer Oppositionskräfte und dem Assad-Regime. Ein von dem freien Journalisten und Autor Ismail Küpeli herausgegebener Sammelband thematisiert die vielseitigen Wahrnehmungen um das Phänomen Rojava zwischen autonomer Selbstverwaltung und pragmatischer Machtpolitik. Am Dienstag stellte der Herausgeber den Band im Conne Island vor. Im Interview mit dem kreuzer sprach Küpeli über die Bedeutung der Stadt Kobane für den Syrienkrieg, die Lage der syrischen Geflüchteten in der Türkei und den Bürgerkrieg gegen die kurdische Zivilbevölkerung und die fragwürdige Rolle Deutschlands darin.
kreuzer: Warum haben Sie den Titel »Kampf um Kobane – Kampf um die Zukunft des Nahen Ostens« gewählt. Wie konnte der Kampf um eine mittelgroße Stadt an der türkisch-syrischen Grenze zum symbolischen »Endkampf« für eine ganze Region stilisiert werden?
ISMAIL KÜPELI: Das Entscheidende ist die symbolische Bedeutung für die kurdische Bewegung. Für den IS spielte sie keine so große symbolische Rolle wie für die kurdischen Verteidigungskräfte. Die Stadt wurde durch die Kampfhandlungen dermaßen zerstört, dass dort nach wie vor kaum ein »normales« Leben möglich ist. Die Schlacht um Kobane war aber die erste große Niederlage des IS seit seiner Einnahme der irakischen Metropole Mosul im Juni 2014. Durch diesen Sieg wurden die kurdischen Milizen der Volksverteidigungskräfte YPG und YPJ (kurdische Frauenmiliz, Anm.) immer selbstbewusster, so dass sogar ein Angriff auf die IS-Hochburg Raqqa östlich von Kobane erfolgsversprechend erscheint.
kreuzer: Neben den Beiträgen über den Kampf und die Ideologie vor allem der kurdischen Milizen der YPG sowie der Frauenmiliz YPJ und deren Rolle im sogenannten »syrischen Bürgerkrieg« werden in Ihrem Buch auch aktuelle politische Akteure und Ereignisse innerhalb der Türkei thematisiert. Warum?
KÜPELI: Die Türkei ist ein zentraler Akteur. Das türkische Embargo gegenüber Hilfslieferungen für Rojava sorgt dafür, dass die Lebensverhältnisse für die dort lebenden Menschen sehr bescheiden und erschwerend sind. Daher fliehen auch viele Menschen von dort – unter anderem auch in die Türkei.
Aufgrund der ideologischen Nähe der kurdischen YPG und YPJ-Milizen zur verbotenen Arbeiterpartei PKK, die ja selbst ein Produkt des türkisch-kurdischen Konflikts ist, sind die Geschehnisse in Rojava für die Türkei von besonderem Interesse. Die außenpolitischen Intentionen des türkischen Staates sind somit ohne eine Analyse des eigenen Konflikts mit der PKK nicht zu verstehen. Es ergibt demzufolge auch Sinn, sich die repressiven Regierungspraktiken der AKP-Regierung genauer zu Gemüte zu führen und zu schauen, welche Antworten die Opposition auf diese Politik der systematischen Einschüchterung und Repression parat hat.
kreuzer: Ebenfalls nimmt der sogenannte »Islamische Staat« (IS) thematisch eine große Rolle im Buch ein. Im westlichen Diskurs wird er meist als das »mittelalterliche Andere« dargestellt. Inwiefern helfen solche dichotomen Bilder, das Wesen des IS zu erfassen?
KÜPELI: So ein Interpretationsansatz verdunkelt eher den IS und ist daher nicht passend. Wichtige Fragen, zum Beispiel wie der IS seine Herrschaft konsolidiert oder immer mehr Kämpfer rekrutieren kann, können mit solchen einfachen Bildern nicht erklärt werden. Die zwei Beiträge im Buch fragen vor allem, warum der IS für nicht wenige Menschen in der Region trotz der skrupellosen Regierungspraxis nicht das »absolut Böse« darstellt. Man muss natürlich dann auch vorsichtig sein, den IS nicht zu verharmlosen oder zu relativieren sowie politisch zu rechtfertigen. Zudem müssen wir uns klar machen, dass für viele Menschen in der Region weniger die Frage entscheidend ist, ob sie in einer Demokratie oder in Frieden leben wollen oder nicht. Für viele Menschen geht es bei der Unterstützung des IS eher um das nackte Überleben, vor allem für viele sunnitische Stämme im Irak, die sich vor den Gewalttaten der schiitischen Milizen fürchten. Aber auch in Syrien schließen sich viele Menschen aufgrund von Existenz- und Subsistenzproblemen dem IS an. Insgesamt ist es wichtig, dass wir die Interessen und Bedürfnisse der Lokalbevölkerung verstehen. Nur unter dieser Prämisse kann ein nachhaltiger Lösungsansatz gefunden werden.
kreuzer: Trotz der steigenden Kampfhandlungen, Opferzahlen und Menschen, die vor dem syrischen Bürgerkrieg fliehen, werden Hintergründe und Entwicklungen des Konflikts in den Medien eher marginal reflektiert. Könnte eine stärkere Thematisierung der Fluchtgründe von Menschen bei der Bekämpfung von rassistischen Stereoypen behilflich sein?
KÜPELI: Nein, das glaube ich nicht. Empathie allein reicht nicht aus, damit sich die Stimmung in Deutschland gegenüber geflüchteten Menschen bessert. Wer schon aus einer beschränkten Wahrnehmung heraus nicht mehr geflüchtete Menschen hier haben will, sollte sich dann aber auch die Frage stellen, wie die Fluchtursachen nachhaltig eingedämmt werden können. Wir müssen uns einfach klar machen, dass, so lange das legitime Bedürfnis von Menschen nach Sicherheit nicht gestillt ist, es immer wieder zu Fluchtbewegungen kommen wird.
kreuzer: Wie ist die Lage der vielen syrischen Geflüchteten in der Türkei und wie beeinflusst die derzeitige politische Krise das Leben dieser?
KÜPELI: In der Türkei gibt es ca. 2,5 Millionen syrische Geflüchtete, deren Lage zumeist schlecht ist. Diejenigen, die in den großen Flüchtlingslagern an der syrischen Grenze untergekommen sind, werden zumindest mit dem Nötigsten versorgt. Geflüchtete, die aber nicht dort untergekommen sind, müssen sich zum Teil mit illegaler Arbeit durchschlagen, damit sie Geld für Miete oder Lebensmittel haben. Wegen dieser schlechten Lage fliehen auch viele Menschen weiter nach Europa. Dass der Krieg in den kurdischen Gebieten die Situation der Geflüchteten nicht verbessert, dürfte klar sein. Inwiefern die derzeitige innenpolitische Krise in der Türkei zu einem erstarkten Nationalchauvinismus gegenüber syrischen Geflüchteten führt, muss man beobachten. Möglich ist dies aber allemal. Zudem verschlechtert sich die Situation durch den EU-Türkei-Deal für die Geflüchteten immer mehr, da sie nun auch verstärkter Repression seitens des Militärs und der Polizei ausgesetzt sind. Aber auch die Manufakturen, welche die Boote für die Flucht herstellen, werden stärker kriminalisiert und zum Teil sogar zerstört.
kreuzer: Die außenpolitische Linie der Bundesregierung gegenüber der türkischen Regierung ist aufgrund der strategisch wichtigen Rolle der Türkei in Bezug auf die Lösung einer herbeigeredeten »Flüchtlingskrise« passiv und unkritisch. Zudem gilt die PKK innerhalb der EU und Deutschlands als »Terrororganisation«. Wo sehen Sie die Möglichkeit einer kritischen politischen Intervention, die eine Verbesserung der Situation für die syrischen Geflüchteten und der kurdischen Zivilbevölkerung nach sich ziehen könnte?
KÜPELI: Zuerst müsste natürlich Geflüchteten-Deal zwischen EU und Türkei aufgekündigt sowie sämtliche Konditionen verwehrt werden. Zudem müssen speziell die deutsch-türkischen Verträge und Abkommen aufgekündigt werden, da sie auf zwei Dinge abzielen: einerseits die syrischen Geflüchteten mit allen Mitteln der Repression dazu zu zwingen, in der Türkei zu bleiben, und sie ohne eine sichtbare Verbesserung der Situation in den Geflüchtetenlagern zu behalten. Andererseits spielen die deutsch-türkischen Verträge beim gegen die PKK und ihre Strukturen gerichteten »Antiterrorkampf« eine signifikante Rolle. Da aber von der AKP-Regierung so gut wie jeder Oppositionelle beschuldigt wird, der PKK nahezustehen, helfen diese Verträge, auch das autoritäre Regime der AKP innerhalb der Türkei zu stabilisieren. Zumindest auf dem Papier hat sich Deutschland dieser Position angeschlossen. Die Inhalte und die Konsequenzen dieser Abkommen müssten öffentlich viel kritischer thematisiert werden. In der Debatte geht es meist nur darum, ob die drei Milliarden Euro zu viel sind oder nicht, aber über die Konsequenzen dieses Deals wird nicht wirklich nachgedacht. Es wäre wünschenswert, wenn eine kritische Debatte dazu führen könnte, dass seitens der Bundesregierung ein viel stärkerer Druck auf die Türkei ausgeübt werden würde und somit eine nachhaltige Verbesserung der Situation der kurdischen Zivilbevölkerung und der syrischen Geflüchteten nach sich zieht.