Als Zuschauer ist man im Theater meist passiv – eine Tatsache, an der sich schon viele Theatertheoretiker gestört haben. Im Oktober kann man in Leipzig und Halle gleich bei drei verschiedenen Stücken in den Genuss kommen, Theater hautnah und aktiv zu erleben.
Es gibt kein Theater ohne Zuschauer«: Banal klingt das, was der Philosoph Jacques Rancière das »Paradoxon des Zuschauers« nennt, nur auf den ersten Blick. Denn die meisten Theoretiker bewerten die Zuschauerrolle negativ. So sei das Zuschauen im Gegensatz zum Erkennen bloß passiv, gäben sich die Zuschauer nur einer Erscheinung hin und das Heft der Handlungsfähigkeit aus der Hand. Diese Abwertung kann zwei verschiedene Folgen haben: Weil es falscher Schein sei, müsse das Theater ganz abgeschafft werden, wie Platon meinte. Die andere Position setzt auf ein Theater ohne Zuschauerrolle. Statt sich zurückzulehnen, sollen sie als Beteiligte partizipieren. Solches Mitmachtheater führt zu rätselhaften oder beispielgebenden Inszenierungen, um das Publikum vom vermeintlichen Stumpfsinn zu lösen und ihm die Beobachterperspektive zu nehmen. Ob Bertolt Brecht oder Antonin Artaud: Theater zielt als Vermittlung auf die Aufhebung der Vermittlung und damit letztlich auf die Aufhebung des Theaters selbst.
Rancière hintergeht die gesamte Aktiv-Passiv-Konzeption: Zusehen ist bereits eine Handlung und steht eben nicht in begrifflicher Opposition zu dieser. Während die Zuschauerin beobachtet, vergleicht und interpretiert sie, zieht sie Schlüsse. Das nennt der Philosoph den »emanzipierten Zuschauer«. Und ein solcher fühlt sich nicht nur vor eine Guckkastenbühne gesetzt wohl. Ist auch das Theater eine Frage der Perspektive, so experimentieren seine Macher immer wieder mit alternativem Zuschauerplatzieren, etwa in Arenaform. Im Oktober drängen sich mehrere dieser auf.
Tribünenrunde kennt man aus der Geschichte, man denke nur an das Londoner Globe Theatre, wo das Publikum im gebauten Kreis Shakespeare-Aufführungen beiwohnte. Ein klassisches Kreistheater kommt mit dem Cirque du Soleil in die Stadt, aber im Gewand des Neuen Zirkus. Trotz seines mittlerweile hochkommerziellen Charakters gelingen dem kanadischen Unternehmen ästhetische Überraschungen. Mit »Ovo« terraformt es ein bunt schwirrendes Insekten-Ökosystem in die Manege.
Auch dem Cirque Nouveau zugehörig ist das Kölner Akrobaten- und Choreografenduo Overhead Project, das im Lofft inszeniert. »Surround« heißt die begehbare Performance, die die gesellschaftliche Dimension des Kreises abschreitet und den Raum zur Arena macht. »Das Stück befindet sich noch in der Entwicklung, die Raumkonzeption ist technisch sehr anspruchsvoll«, erklärt Lofft-Geschäftsführer Dirk Förster. Daher waren bis Redaktionsschluss noch viele Details vage – auf kreuzer-online wird zeitnah mehr zu erfahren sein.
Zum letzten Mal Gelegenheit, eine ungewöhnliche Arena-Situation zu erleben, bietet die Oper Halle. Ihr »Heterotopia«-Experiment aus der vergangenen Spielzeit hat sie in diese verlängert. Mit ihr hat Neuintendant Florian Lutz Oper auf einen neuen Begriff gebracht: »Wir wollen ein Musiktheater schaffen, das intensiv ist und denkt, eine soziale Opernplastik, die ein Abbild gesellschaftlicher Verhältnisse ist. Die Möglichkeit, sich dieser Welt hinzugeben und über das Arrangement Theater über die Dinge jenseits von Alternativlosigkeit zu denken, soll Raum bekommen.« Über die Sitzordnung ist ein anderes Gestalten möglich, weshalb sie eine Raumbühne entwarfen: Der ganze Opernraum wird zur vielfältig bespielbaren Bühne. Das Publikum sitzt mal drum herum, mal mittendrin auf der Kampfbahn verteilt. Im »Fliegenden Holländer« etwa war, so Lutz, ein Teil der Zuschauer »dem doppelchorigen Sturm ausgesetzt, musste sich selbst dazu verhalten. Das war ein merkwürdiges, weil bleibendes Musikerlebnis, das Reflexionen anstoßen kann.« Für diese Raumkonzeption wurde Bühnenbildner Sebastian Hannak für den deutschen Theaterpreis Faust nominiert – Preisverleihung ist am 3. November im Schauspiel Leipzig.
Wer sich an die letzten Monate der Sebastian-Hartmann-Intendanz erinnert, weiß, welche Kraft solch eine Arenasituation entfalten kann. Im damals fünfstufigen weißen Rund lösten die fast intime Nähe und der Umstand, dass man die anderen Zuschauer in ihren Reaktionen direkt mitbeobachtete, eine ungewohnte Theaterseherfahrung aus.
Um zum emanzipierten Zuschauer zurückzukehren: Das Theater ist nicht deshalb ein besonderer Ort, weil es eine Gemeinschaft konstituiert, sondern weil es Individuen intellektuelle und emotionale Abenteuer ermöglicht – über die man sich gegebenenfalls austauschen kann. So sehr Theatermacher auch versuchen, eine verschworene Gemeinschaft zu inszenieren oder ein mythisches Kollektiv zu geben, es bleibt Theater, das auf viele Weisen gut oder schlecht gemacht sein kann und vom Publikum selbst-tätig bewertet wird. – »Die Philosophie sagt, dass das Denken allen zukommt.«