»Mein geliebter Wallerstein. Das Ding hat mich so geprägt in meiner Fechtweise, das ist die Bibel der Ringer.« Beseelt deutet Kurator Thore Wilkens auf eine Vitrine, in der eine Handschrift liegt. Sie zeigt zwei miteinander ringende Figuren. Optisch könnte Wilke selbst ein bisschen den Seiten entsprungen sein. Die große kräftige Figur steckt in schwarzen Kniebundhosen. Am Kurator zeigt sich der Vorzug der Ausstellung »Kunst dye dich zyret«, die alleinig dem historischen Fechten gewidmet ist und Quellenstudium mit Waffenhandhabung zusammenbringt.
»Diese Ausstellung ist von praktischen Kampfkünstlern für praktische Kampfkünstler gemacht«, sagt Wilkens, während er durch den Saal im Chemnitzer Schloßbergmuseum führt. Doch auch Laien können hier allerhand über die historische europäische Kampfkunst lernen, wie beim Rundgang zu erfahren ist. Denn im Gegensatz zum erst langsam verschwindenden Vorurteil schlugen die Menschen des Mittelalters und der beginnenden Neuzeit nicht plump und ungelenk mit Blankwaffen aufeinander ein, zählte nicht nur bloße Muskelkraft. Natürlich bediente man sich verschiedener Kampftechniken und eines Kampfsystems – und die sind teilweise überliefert.
Das historische Fechten wurde maßgeblich in den neunziger Jahren von einigen Enthusiasten wiederentdeckt. Anhand historischer Aufzeichnungen, Fechtbüchern aus dem 15. und 16. Jahrhundert, rekonstruierten sie die Zweikampftechniken. Als experimentelle Archäologen vermaßen sie alte Schwerter und probierten Repliken aus. Mittlerweile gibt es europaweit und über die »Alte Welt« hinaus ein Netz an Gruppen und Aktiven, die sich mit der Kampfkunst beschäftigen. Thore Wilkens ist Trainer beim Chemnitzer Verein Bloßfechter. Als Wissenschaftler hat sich der Germanist mit den Fechtbüchern als Quelle beschäftigt. Rund neunzig erhaltene deutschsprachige Fecht-Manuskripte existieren insgesamt – sie lesen sich verrätselt. »Wer einen Oberhau zu dir schlägt, dem droht der Zornhau-Ort«, heißt es etwa. Hierin drückt sich jene Technik aus, mit der wir dem halbkreisförmigen Schlag des anderen unseren Schlag entgegensetzen. Passt der Kontrahent nun nicht auf, kann man nachsetzen und ihm droht dann ein Stich mit der Spitze – die nennt sich »Ort«.
Die Chemnitzer Schau zeigt wichtige Exemplare der Fechtliteratur im Original. Dazu korrespondierend sind Waffen der verschiedenen Gattungen zu sehen: Statt Prunkschwerter ohne Gebrauchswert auszustellen, sind Mordaxt oder Langschwert, Scheiben- und Nierendolch, Kriegsmesser und Dusägge, Buckler, Rapier und Flamberg zu bestaunen. »Man findet hier fast nur Gebrauchswaffen in einem sehr gut erhaltenen Zustand«, sagt Wilkens. In kleinen Séparées werden ausgestellte Waffen mit den Fechtbüchern in Beziehung gesetzt, die ihre Anwendung zeigen. Videos mit dem Kurator in Aktion veranschaulichen beispielhaft Techniken und ihre Effektivität.
Dabei geht es nicht um Verherrlichung, sondern Verstehen, so Willens. »Gewalt wird heute entweder gleich als Bestie dämonisiert oder verklärt und die Waffe als Träger ästhetischer Prozesse angesehen. Wenn wir aber die Mentalität einer Epoche studieren, müssen wir die Gewaltpraktik ansehen. Die Waffen waren für die Leute, die sie trugen, Teile ihrer Identität. Sie haben sich darüber dargestellt, wie heute Smartphones Statussymbole sind.« Also müsse man diese Gegenstände auch auf ihren Gebrauch hin analysieren. Und das geht nur, wenn man die Praxis des Fechtens kennt, Schwert & Co. also handhaben kann. »Wenn ich keine Ahnung vom Kochen habe, kann ich nichts über die Güteklasse eines Kochbuchs sagen«, sagt der fechtende Wissenschaftler Thore Wilkens. Eine gewisse Ahnung jedenfalls hat man nach dem Ausstellungsbesuch in Chemnitz.