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Kampf um das Urbane

Leipzig befindet sich im Wandel – und obwohl die Stadt wächst, gerät ihre Urbanität in Gefahr

  Kampf um das Urbane | Leipzig befindet sich im Wandel – und obwohl die Stadt wächst, gerät ihre Urbanität in Gefahr

Irgendwas stimmt nicht. Spätis schließen, plötzlich gibt es eine Sperrstunde, Mieten kann sich kaum einer mehr leisten, am Kreuz steht die Polizei mit Maschinenpistole und über allem kreist der Polizeihubschrauber. Der öffentliche Raum in Leipzig wird zunehmend reglementiert. Gedankenspaziergang durch eine Stadt – gefolgt von drei Thesen zur Erklärung der eigenartigen Phänomene.

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Personenkontrolle am Hauptbahnhof. Ein junger Mann wird von der Bundespolizei nach seinem Namen und dem Ausweis gefragt. Warum sie gerade ihn ausgesucht haben, sagen sie nicht. »Verdachtsunabhängig« heißt das im Dienstjargon. Das kann man machen, Schleierfahndung sei Dank. Und sofort fragst du dich: Was muss ich tun oder wie muss ich aussehen, um ins Visier der Bundespolizei zu geraten, während ich am Bahnhof Schuhe kaufen oder einen Zug bekommen will? Eine dunklere Hautfarbe hat er nicht, das reicht ja meistens schon. Liegt es daran, dass er lange Haare trägt? Einen Vollbart? Dass er einen schwarzen Pulli anhat?

Vor dem Westeingang malt ein Punk kunstvolle Bildchen mit Bleistift, vor ihm steht ein Pappbecher, in den Vorbeikommende Geld reinwerfen sollen. Im Hintergrund ertönt klassische Musik. Stört ihn die? »Na ja, die spielen ja immer wieder das Gleiche«, beschwert er sich. Aber nö, stören tut sie nicht. »Ich höre die gar nicht mehr.« Seit dem Sommer hat das Centermanagement der Bahnhofspassagen Boxen an den Eingängen angebracht, aus denen Klassik klingt. Das gilt als bekannte Maßnahme, um unerwünschte Personen so zu nerven, dass sie den Bereich der Dauerberieselung verlassen. Dass damit die Punks und Bettler und andere Menschen vertrieben werden sollen, sei gar keine Absicht gewesen, betont auch die Stadt, die diese Sondernutzung genehmigte. Den Punk kümmerts nicht, er malt einfach weiter. Er ist einer von drei Menschen, die noch vor dem Westeingang sitzen oder liegen. Doch geht man einfach weiter über die Ampel, wird es voll. Hier hängen inzwischen viel mehr Leute ab, die das öffentlich wirksame Gesamtbild einer gepflegten Einkaufspassage wohl eher stören würden.

Stell dir vor, du wohnst in einer schicken Villa am Park und dann hören da Leute laut Musik

Aber auch die Händler in der Innenstadt machen ordentlich Radau. Wenn Leute in der gleichen Straße rumlungern, in der ihr Geschäft ist, traue sich da keiner mehr rein, beschwerten sie sich in der Bild-Zeitung und forderten Platzverbote. Schöner sind da natürlich die Höfe am Brühl, immer sauber, immer glänzend und mit schönem Wasserfall auf dunklem Stein – schön leer auch oft. Es gibt natürlich auch hier Jugendliche, die sich zum Mall-Abhängen treffen. Doch ist ein Center kein Stadtzentrum, kein öffentlicher Raum. Hier gelten die Regeln der Security: Nicht rauchen, nicht rennen und auf dem Boden sitzen ist auch nicht. Angenehm für alle wäre dagegen wohl, sich direkt hinterm Eingang eine Gesichtscreme für über hundert Euro zu kaufen.

Dem öffentlichen Raum wird es zunehmend schwer gemacht in dieser Stadt. Überhaupt die Räume, in denen man Spaß haben kann – jenseits der eigenen vier Wände. Selbst in Reudnitz muss jetzt das 4rooms schließen. Zwölf Jahre lang hat es sich im Täubchenweg etabliert. Es gibt dort neben Konzerten auch Metal-Stammtische, osteuropäische Nächte oder Kneipenquiz. 
Für viele in der Gegend ist der Laden ein zweites Wohnzimmer geworden. Eins, in dem man Leute treffen und Kultur erleben kann. Doch nächstes Jahr müssen sie wohl zu Hause ihr Bier trinken. Ein österreichischer Investor hat das Haus gekauft, plant Eigentumswohnungen. Der Antrag des 4rooms, den Mietvertrag zu verlängern, wurde abgelehnt. Eine Kneipe störe die Wohnqualität, ließ der neue Besitzer laut der Betreiber verlauten. Denn wer ein halbes Vermögen in sein neues Eigenheim investiert, der will da seine Ruhe.

Und ja, stell dir mal vor, du wohnst in einer schicken Villa mit Blick auf den Park und dann hören da Leute Musik. Und nicht die gleiche, die gerade aus deiner teuren Dolby-Surround-Anlage kommt. Das geht nicht. Und so trudeln sie ein beim Ordnungsamt, die ganzen Lärmbeschwerden der Anwohner. Und hier geht es noch nicht mal um eine abgerockte Metal-Kneipe, sondern um den Musikpavillon, bei dem – zugegeben oft auch furchtbare – Bands ihren Lounge-Jazz oder mal einen schlechten Schlager auf Elektrobeats darbieten, um das Abendessen der Gäste musikalisch zu untermalen. Dass ein Open-Air-Konzert in der Parkbühne nicht länger als bis 22 Uhr gehen darf, wurde längst schon durchgesetzt. Der Villenbesitzer braucht seinen vormitternächtlichen Schlaf, denn er muss morgens früh raus.

Schick sehen auch die sanierten Altbauten in der Südvorstadt aus. Wer heute einziehen will, muss Geld haben. Also etwa doppelt so viel wie die Leute, die hier seit Jahren wohnen. Du zahlst in der langsam zu klein werdenden Dachwohnung in der Nähe des Fockebergs noch fünf Euro pro Quadratmeter, die neue Nachbarin zahlt bereits elf. Das weißt du genau, weil der Vermieter es dir in einem Brief mitgeteilt hat. Als eine Begründung dafür, dass auch deine Miete nun steigen muss. Die Suche nach einer größeren Wohnung in der Nähe, die du dir leisten kannst, ohne darin zu verhungern, dauert über ein halbes Jahr.

Nicht so schick wie die Altbauten wirken daneben die Neubauten, die als helle Betonklötze mit sehr viel Fensterglas aus jeder noch so kleinen Freifläche sprießen. Und warum bitte schön zieht man in ein Einfamilienhaus in der Nähe der Karli? Reihenhäuser im Szenebezirk – die bekloppteste Idee, seit es Stadtentwicklungsbüros gibt. Von den Häusern sieht der Vorbeigehende, der im Dunklen sofort den Bewegungsmelder animiert, nur das Hinterteil mit seinen meist verschlossenen Fenstern, damit das von Kneipe zu Kneipe wandernde Volk nicht reinschaut, sondern nur den neuen Carport zu Gesicht bekommt. Schöne Straßen mit fröhlichen Menschen – also die Gründe, weswegen man ja eigentlich herziehen sollte –verschwinden Stück für Stück.

Am Südplatz sitzen sie noch – solange es nicht arschkalt ist. Junge Menschen auf Bürgersteigen oder Fensterbrettern. Ein Treffpunkt für alle, die gerade keine Lust auf ihr Zuhause oder kein Geld für die Kneipe haben. Ein öffentlicher Raum, der von vielen aus der Nachbarschaft genutzt wird. Schöner könnte es nur noch werden, wenn sie das Stück Straße hier einfach sperren würden. Für mehr Freude am Leben. Inzwischen kann aber nicht mal mehr das Karli-Beben stattfinden – wegen zu starker Auflagen. Und, da hört der Spaß wirklich auf: Zuletzt fiel sogar der Flohmarkt im Ilse-Biergarten mehrmals aus – wegen »Problemen mit dem Ordnungsamt«, schrieben die Betreiber.

Und wo gibts die überhaupt noch, die Brachen, Nischen und andere Freiräume, die sich die Bürger aneignen können? Auf dem Jahrtausendfeld wurde es eine Weile erfolgreich versucht. Beachvolleyball, Skateanlage oder Grillplatz haben sich die Jugendlichen selbst aufgebaut. Aber let there be rock is nich. Gründe, das zu unterbinden, fand man viele. Sicherheitsbestimmungen, Eigentumsverhältnisse, Müll und natürlich Anwohnerbeschwerden.

Von Hausbesetzungen wollen wir gar nicht anfangen. Gibts die noch? Solltest du tatsächlich mal auf die Idee kommen, steht innerhalb von 24 Stunden mit großer Wahrscheinlichkeit die Polizei vor der Tür und räumt dich weg. Das Black Triangle hält sich immerhin noch wacker, steht allerdings auch auf einem Gelände der Bahn.

»Holst du noch ein Bier?« »Klar.« Ach, nee, verdammt, Späti hat schon zu. Laut Gesetz darf man nur bis 22 Uhr seinen Laden aufmachen. Bislang war das egal, es wurde im Fall kleiner Spätverkäufe weder überprüft noch geahndet. Und alle fandens gut (sogar die CDU). Doch bei bestimmten Spätis sind die Kontrollen in letzter Zeit so angestiegen, dass sie ihre Ladenöffnungszeiten wieder den gesetzlichen Vorgaben anpassen müssen. Heißt praktisch: Um zehn ist Feierabend. Und sonntags gar nicht mehr offen. Dann kann man den Laden auch dichtmachen.

Also Bier trinken in der Nato. Als wir früher hier saßen, zählten wir die vorbeikommenden Leute, die wir kannten. Heute zählen wir die Polizeiwagen. An einem beliebigen Montagabend: zwölf in zwei Stunden. Kein Blaulicht, kein Notfall, einfach Streifenwagen oder Sixpacks, die rumfahren. Noch schlimmer wirds, wenn sie halten. Mal parkt einer auf dem Fahrradweg, mal auf dem Hinterhof. Dann holen sie sich eben einen Döner und man selbst starrt die ganze Zeit auf die Waffe an ihrem Gürtel und malt sich beim Dürümkauen Schreckensszenarien aus, wer wen damit totschießen könnte. In Grünau hat ein Beamter mal seine Maschinenpistole aus Versehen verloren. Wirklich. Heckler & Koch MP5, 900 Schuss die Minute. Die Waffe ist bisher auch nicht wieder aufgetaucht. Und dann ständig dieser Polizeihubschrauber. Macht einen Lärm vorm Herrn. Dabei ist heute gar kein Fußball. Und eine Demo auch nicht. Der Polizeihubschrauber fällt seit geraumer Zeit – also ungefähr seit dem G20-Gipfel in Hamburg – immer wieder auf. Und tatsächlich haben sich die Einsätze der Hubschrauber der Bereitschaftspolizei seit 
dem Frühsommer gegenüber den Vorjahresmonaten deutlich erhöht – von 37 auf 51, das heißt, im Schnitt zwei- bis dreimal die Woche. Und da ist der Helikopter der Bundespolizei noch nicht eingerechnet, der fliegt nämlich auch rum, bei allen Fußballspielen zum Beispiel. Wer kümmert sich eigentlich um diese Art der Lärmbelästigung? Und was ist mit den vielen Polizeistreifen im Süden der Stadt? Die Ordnungsbehörde gibt sich bedeckt beziehungsweise will davon nichts wissen. Es handle sich nicht um »gesonderte Einsatzmaßnahmen«, sondern »Maßnahmen im Rahmen des täglichen Dienstes«, erklärt Innenminister Markus Ulbig auf eine Anfrage von Juliane Nagel, die offenbar ähnliche Polizei-Zählspielchen in Connewitz spielt und zu dem gleichen Eindruck einer erhöhten Präsenz kommt.

Die Polizei – dein Freund und Helfer, der für Ordnung sorgt. Doch die Freundschaft hat einige Risse bekommen in letzter Zeit. Die Polizei ist nervös, der Umgangston hat sich verschärft. Immer wieder sorgen Pressemitteilungen der Polizei für Empörung – wenn sie zum Beispiel über einen kriminellen Lybier Sätze schreibt wie: »Ob es sich bei den Diebstahlshandlungen und Raubstraftaten um angemessene Begrüßungshandlungen gegenüber der Bevölkerung handelt, werden die Opfer mit Sicherheit zu verneinen wissen.« Kurz darauf dann ein Erklärungsversuch: »Die Pressemitteilung erfolgte im Wissen um die einseitige Wahrnehmung der Polizei, welche berufsbedingt fast ausschließlich und nicht zu knapp mit negativen Aspekten des Flüchtlingszustroms befasst ist.« In der Bild-Zeitung erklärt Polizeisprecher Andreas Loepki, die Stimmung unter den Kollegen sei angespannt wie noch nie. »Die, die im Stadtgebiet von Leipzig arbeiten, haben die höchste Arbeitsbelastung im kompletten Freistaat.« Die Hemm- und Reizschwellen seien niedrig.

Kollegen von ihm spielen derweil Katz und Maus in Connewitz. Im Sommer letzten Jahres wurde an die Wand des Streetballplatzes neben »Antifa-Area« und »No Nazis« auch »No Cops« gesprüht. Da die Wand der Stadt gehört, fordert ein CDU-Stadtrat schnell die Entfernung des Graffito. Und lässt die Spiele damit beginnen. Die Stadt übermalt den Schriftzug, Sprüher sprühen in wieder ran, die Stadt malt wieder und so weiter. 6:6 lautet der derzeitige Spielstand. Doch wurden zwischendrin die Voraussetzungen verschärft. Die Polizei bewache nun mit zwei Beamten die Wand, hieß es bei der Morgenpost. Stimmt natürlich nicht, sagt man bei der Polizei. »Die Beamten sind nicht nur wegen eines Graffito dort«, berichtete ein Sprecher der Polizei dem Magazin Vice. »Sie sind in ganz Connewitz unterwegs, weil dort in letzter Zeit öfters etwas passiert.« Was genau passiert denn da? »Es kommen dort schnell viele Leute aus der linken Szene zusammen und dann entstehen eben auch solche Graffiti. Wenn wir vor Ort sind, können wir schnell reagieren.« Auf Twitter drückte sich die Polizei noch unglücklicher aus: »Wenn es dort keinen Polizeirassismus mehr gibt, können wir uns auch um andere Sachen kümmern«, antwortete sie auf die Bemerkung, dass so viel Aufmerksamkeit bei Flüchtlingsheimen wünschenswert wäre. Polizeirassismus? Ernsthaft? Darunter hatte man bis jetzt immer ein ganz anderes, nicht selten auftretendes Problem verstanden – Rassismus bei der Polizei. Mittlerweile ist klar, dass es sich bei den Graffiti bewachenden Beamten um Mitglieder des Einsatzzuges »Lebensbedrohliche Einsatzlagen« handelt, der bei Geiselnahmen sowie Terror-lagen zum Einsatz kommt. Da es in der Gegend allerdings selten zu Geiselnahmen, Terroranschlägen oder anderen lebensbedrohlichen Situationen kommt, haben die Polizisten also viel Zeit und scheinbar keine Lust mehr, sich gegenseitig mit Büroklammern zu bewerfen.

Nachts gehts dann zum Feiern ins IfZ. Die Leute schwitzen, sind in Ekstase. Doch bis in den Morgen wird hier heute nicht getanzt. Um 5 Uhr ist kurz mal Schluss. Sperrstunde, meine Damen und Herren, meine Queers. Der Club macht Pause. Also schlafen gehen und in einer Stunde wiederkommen? Was soll das? Das weiß nicht mal das Ordnungsamt. JULIANE STREICH

 

These 1

Das SPD-regierte und traditionell linke Leipzig ist der Landesregierung ein Dorn im Auge. Die zunehmende ordnungspolitische Regulierung passt zum Rechtsruck der sächsischen CDU. 

[caption id="attachment_60937" align="aligncenter" width="666"] Illustration: Jill Senft[/caption]

 

Ringen um Deutungshoheit

Immer mehr Polizeiwagen, verstärkte Kontrollen, ewig kreiselnde Hubschrauber oder die Sperrstunde für subkulturelle Einrichtungen – was zunächst subjektive Eindrücke eines Streifzugs durch Leipzig sind, hat durchaus auch politische Grundlagen. Denn nicht erst seit Sachsens inzwischen abgedankter Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU) nach dem Bundestagswahlerfolg der AfD einen Rechtsruck forderte, forciert die Landesregierung eine Politik, die zunehmend ordnungspolitische Maßnahmen, Restriktionen und Repression gegen politische Gegner mit sich bringt.

Ein Grund dafür ist die diskursive Machtverschiebung im Zuge des verstärkten Fluchtaufkommens und der damit einhergehenden Stärkung rechter Dominanz gesellschaftlicher wie politischer Kräfte. Die sächsische CDU reagiert auf diese Entwicklungen nicht mit demokratischer Abgrenzung von rassistischen, diskriminierenden und teils verfassungsfeindlich agierenden Akteuren, sondern hofiert diese strategisch, indem sie Abschiebehaft einführt, Asylzahlen begrenzt und Repression gegen Linke verschärft. Rückbesinnung auf die Nation statt weltoffener Demokratie scheint das Credo, wenn Tillich beispielsweise davon spricht, dass die Leute wollen, »dass Deutschland Deutschland bleibt«.

Die erhöhte Präsenz ist eine Machtdemonstration, um der Kritik an polizeilicher Arbeit zu begegnen

Das historisch von linken Kräften geprägte Leipzig ist dem konservativ regierten Dresden dabei ein Dorn im Auge. Denn auch wenn die CDU derzeit auch im Leipziger Stadtrat mit 19 Sitzen stärkste Kraft ist, die Linkspartei ist ihr mit 18 Sitzen dicht auf den Fersen, während der Oberbürgermeister Burkhard Jung von der SPD gestellt wird. Auch die außerparlamentarische Linke ist in Leipzig stärker als im Rest des Bundeslandes, und nicht zuletzt die beständige antifaschistische Mobilisierung hat dazu geführt, dass Legida hier kaum Fuß fassen konnte.

Es gibt viele Ereignisse, die darauf hindeuten, dass die Konservativen die linken Strukturen, außerparlamentarischer wie parlamentarischer Natur, weiter einzudämmen versuchen. Sei es die zunehmende Kriminalisierung von antifaschistischem Protest (kreuzer 08/2017), der Überwachungsskandal um den in der linken Szene beliebten Fußballverein BSG Chemie Leipzig (kreuzer 06/2017), die Konstruktion von Gefahrengebieten oder der Übermalungskampf und die daraus resultierende Dauer-Bewachung eines Antifa-Graffito am Connewitzer Kreuz. Ihren bisherigen Höhepunkt erreichte die Debatte, als Bundesinnenminister Thomas de Mazière (CDU) nach G20 forderte, man müsse linke Orte wie das Conne Island in Leipzig schließen, da sie Horte der Gewalt seien, und der sächsische Innenminister Markus Ulbig (CDU) ihm beipflichtete (kreuzer online 07/2017). Zustimmung erhält die Politik dabei auch vom Exekutivorgan. Leipzigs Polizeichef Bernd Merbitz sagte, in Leipzig seien »rechtsfreie Räume entstanden«, die Stadt erlebe seit Jahren »einen erheblichen Zuzug von Linksextremisten«, und folgt dabei der analytisch schwachen extremismustheoretischen Gleichstellung von Links und Rechts.

Dass Polizei und CDU dabei auf einer Linie sind, ist nur logisch. Denn seit dem Beschluss zur Polizeireform 2020 werden massiv Stellen abgebaut, immer wieder ist von fehlendem Personal bei der sächsischen Polizei die Rede, die gleichsam argumentiert, insbesondere in Leipzig einer »extrem angespannten Situation« ausgesetzt zu sein, wie Polizeisprecher Andreas Loepki sagt. Verantwortlich für den Stellenabbau ist die Landesregierung, denn die Polizei ist Ländersache. Die steigende Präsenz der Polizei in Leipzig ist somit nicht nur nützliches Repressionsinstrument im Kampf um die politische Deutungshoheit, sondern auch eine Machtdemonstration, um der Kritik an mangelnder Effizienz polizeilicher Arbeit zu begegnen.

Dabei stößt die Landesregierung immer wieder auf Konflikte mit kommunalpolitischen Entscheidungsstrukturen. Auseinandersetzungen, wie die um die Frage nach der Unterbringung Geflüchteter in Leipzig, sind keine Seltenheit. Damals kritisierte der Oberbürgermeister die Landesregierung scharf für fehlende Kommunikation über Unterbringungsplanung. Auch in der Debatte um die Vergewaltigung im Leipziger Rosental (kreuzer 10/2017) sagte Jung, er fühle sich von der Landesregierung »allein gelassen« – forderte in der Konsequenz aber gleichzeitig die Aufstockung der Polizei.

Doch auch die wirtschaftliche Relevanz der Stadt spielt in den politischen Dominanzkonflikten eine entscheidende Rolle. Denn mit zunehmender Attraktivität geht wirtschaftlicher Aufschwung in Form von Investitionskapital einher. Seit Jahren investiert die sächsische Landesregierung massiv in den Wirtschaftsstandort Leipzig. Die zunehmende ökonomische Relevanz führt gleichsam zu einer ordnungspolitischen Wende: Marktinteressen dominieren zunehmend politische Entscheidungsfelder. Ein Phänomen, das zwar wirtschaftstheoretisch nicht neu ist, in Leipzig jedoch langsam seine Früchte trägt. SARAH ULRICH

These 2

Die Konsolidierung auf dem Immobili­en­markt ist so weit fortgeschritten, dass Freiräume per Repression aus den Vierteln entfernt werden, um dort ein ruhiges Wohnen und weitere Wertsteigerungen zu ermöglichen. Leipzig wandelt sich von der Szenestadt zur Wohnstadt.

[caption id="attachment_60935" align="aligncenter" width="666"] Illustration: Jill Senft[/caption]

Wohnen statt Leben

Eine explosive Entwicklung im sozialen Wohnungsbau muss zur Notwendigkeit werden«, war schon im allerersten kreuzer zu lesen, der damals noch KREUZER hieß und vor 26 Jahren im Juni 1991 erschien. Das Problem, über das wir hier reden, ist also alles andere als neu – und seine Lösung auch nicht. Damals erlebte Leipzig den bisher größten Boom auf dem Immobilienmarkt. Der brach Ende 1998 jäh zusammen, als die staatliche Förderung des Immobilienkaufs im Osten endete.

Gerettet wurde der günstige Wohnraum der Stadt, die ja erst seit 27 Jahren an der kapitalistischen Wirtschaftsordnung teilnimmt, immer wieder durch zwei Dinge: Erstens die Armut seiner Bevölkerung, die nach 40 Jahren DDR kaum über Kapital verfügte. Zweitens die Weltwirtschaftskrisen der letzten zwanzig Jahre, die große Auswirkungen auf Leipzigs wichtigsten Wirtschaftsbereich hatten – das Immobilienwesen. Letzteres zeigt auch die starke Abhängigkeit des Leipziger Immobilienmarktes von Geld, das von außen kommt.

Jetzt also nähern sich die Aktivitäten auf dem Immobilienmarkt der Stadt zum ersten Mal seit zwanzig Jahren wieder ihrem Höhepunkt in den neunziger Jahren an. Vermutlich wird er 2017 sogar übertroffen. Heute ist die Konsolidierung auf dem Immobilienmarkt so weit fortgeschritten, dass wir langsam in eine Situation kommen, in der Leipzig bisher noch nicht war: Das quirlige, lebendige, aber auch laute und manchmal dreckige Leben wird per Repression aus den Szenevierteln entfernt, um dort ein ruhiges Wohnen und weitere Wertsteigerungen zu ermöglichen.

Die Offensive der Exekutive

Es gab mal dieses Foto von einem Spruch, er war auf ein Banner gepinselt, das hing am Klub der Republik in Berlin: »Erst wenn die letzte Eigentumswohnung gebaut, der letzte Klub abgerissen, der letzte Freiraum zerstört ist, werdet ihr feststellen, dass der Prenzlauer Berg die Kleinstadt geworden ist, aus der ihr mal geflohen seid« – ja, das war 2012, vor fünf Jahren. Natürlich sind die Klubs jetzt alle zu und im Prenzlauer Berg konkurriert man inzwischen mit westdeutschen Zahnärzten mit 20.000 Euro netto im Monat um die letzten Wohnungen. Das Kapital schlägt zurück, nun auch bei uns im beschaulich billigen Leipzig. Als Erstes müssen die Spätis und kleinen Clubs dran glauben, das war schon im Prenzlauer Berg so. Denn wer will schon biertrinkendes Volk hören und riechen müssen bei 1.500 Euro Monatsmiete?

Die Frage ist ganz einfach: Was ist die Alternative zum kapitalistisch organisierten Wohnungsmarkt?

Und wer will pikiert guckende Investorenehepaare am Lazy Dog vorbeiführen zum Eigentumswohnungsverkaufsgespräch? Ruhe in der Stadt braucht jemanden, der für Ruhe sorgt. Und so kommt es automatisch zur Offensive der Exekutive. 
Ganz einfach, weil sich immer mehr Menschen über irgendwas beschweren und Lobbygruppen ihre Arbeit intensivieren – aber auch, weil Druck aus der Politik kommt. Denn was sicher nicht zur optimalen Vermarktung beiträgt, ist die Anwesenheit kapitalismuskritischer Menschen, von denen sich einige auch noch zur Aktion bemüßigt fühlen.

The city never sleeps

Die Polizei vertreibt die Gammler und das Ordnungsamt entfernt die letzten Dreckecken und Lärmpunkte. Und am Himmel kreist der Polizeihelikopter. Kontrolle wird hergestellt. Die Stadt als Festung. So wandeln sich ehemalige Szenebezirke in ruhige Wohnviertel – mal abgesehen vom Hubschrauberlärm. Die Kulturstadt mutiert zur Wohnstadt, wo man nach Feierabend beim Essenlieferdienst bestellen darf und im hellen Strahl der Leuchtdioden dem Tod entgegendämmert. Was ist daran das große Unglück? Ja, es ist eben der Moment, an dem man sagt: Das ist nicht mehr mein Leipzig. Da soll der Späti nämlich aufhaben mitten in der Nacht, wenn die Kippen und das Bier ausgehen und Leute auf der Straße rumlaufen, die anders aussehen als ich und meine Freunde. Die Stadt schläft nie. Das ist Urbanität.

Pustekuchen

Doch das Problem geht tiefer. Eigentlich könnte man ja hoffen, der Staat, dem die soziale Frage zu lösen ins Grundgesetz geschrieben wurde, würde helfen. Doch Pustekuchen. Es stimmt auch gar nicht, im Grundgesetz steht nichts vom Wohnen, dafür allerdings in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (Artikel 25). Zu diesem Menschenrecht gehört eine ordentliche Infrastruktur, und damit sind nicht nur Straßen und Kackleitungen gemeint, sondern auch so was wie Teilhabe und Kultur. Aus irgendeinem Grund entscheidet man sich derzeit in Leipzig lieber dafür, an der sogenannten öffentlichen Ordnung herumzuregulieren, statt Zukunft zu gestalten.

Mein lieber Herr Oberbürgermeister

Ein großer Teil der aktuellen Probleme mit Verdrängung in der Stadt ist selbst produziert, zum Beispiel durch das aus heutiger Sicht unheimlich effektive Projekt namens »Pakt der Vernunft«, infolge dessen die Stadt von 2003 bis 2013 fast 13.000 Wohnungen abreißen ließ, um den Mietmarkt vor einem angeblichen Kollaps zu bewahren (s. kreuzer 10/2017). Hat ja auch geklappt.

Und was ist eigentlich mit Ihrer SPD los, mein lieber Herr Oberbürgermeister? Wo bleibt das Machtwort zum sozialen Wohnungsbau? Den braucht diese Stadt dringender als mehr Polizisten. Übrigens: Da würde es vielleicht schon reichen, die Beamten abzuziehen, die in Connewitz Punks und Graffiti bewachen, sich dabei gegenseitig Büroklammern ins Auge schießen oder auf der Karli ihre Runden drehen und Döner kaufen (siehe S. 18 und S.20). Die frei werdenden Kräfte lassen Sie im Rosental Streife laufen, damit die Leute aufhören, AfD zu wählen.

Machen Sie Leipzig, die Wiege der Sozialdemokratie, zur Modellstadt für eine nachhaltige, am Gemeinwohl orientierte Organisation der Gesellschaft. Beim Wohnungsmarkt fangen wir an. Schnappen Sie sich Ihre Frau Dubrau, die LWB und entfesseln Sie mal ein bisschen Power. Ein paar Baugenossenschaften machen bestimmt auch mit. Scheiß auf Göpel, Fahrenkamp, die Gröner-Brüder und Konsorten. Hört sich lustig an, nicht wahr? Aber so war das eigentlich mal gemeint mit der sozialen Gerechtigkeit und dem Gestaltungswillen der Politik. Dann könnte diese Partei vielleicht auferstehen aus ihrem Elend und wieder einen Beitrag leisten zum Wohl der Menschen. Aber wir wollen hier nicht zur Rettung der SPD ansetzen, sondern weiter in einer lebenswerten Stadt wohnen, einem urbanen Ort, den man gut finden kann.

Ich muss Ihnen leider drohen, Herr Jung. Wenn Sie nicht bald was unternehmen, kaufe ich eine neu gebaute Eigentumswohnung mit boden-tiefen Fenstern genau vor dem Haus, in dem Sie wohnen. Und dort werde ich dann sitzen und in Unterhosen Computer spielen, ohne Vorhang. Und das wird Ihnen peinlich sein, wenn Sie zum Rauchen auf die Terrasse gehen und ich die Polizei rufe, weil Sie die Luft verpesten und Sie mir sowieso immer zu laut sind.

Die Gemeinwohl-Ökonomie

Also, wenn die Politik es nicht tut, wer soll es dann machen? Wir selbst? Früher haben die Leute Häuser einfach besetzt. Macht das heute noch irgendjemand? »Um dieser Wohnungsnot ein Ende zu machen, gibt es nur ein Mittel«, heißt es bei Friedrich Engels. »Die Ausbeutung und Unterdrückung der arbeitenden Klasse durch die herrschende Klasse überhaupt zu beseitigen.« Die Frage, die wir uns hier stellen müssen, ist ganz einfach: Was ist die Alternative zum kapitalistisch organisierten Wohnungsmarkt? Darunter geht es leider nicht. Und nein, es geht auch nicht realsozialistisch oder kommunistisch, sondern nur demokratisch, mit einer Ökonomie, die dem Gemeinwohl verpflichtet ist. Klingt einfach, ist es auch. Das Konzept dafür gibt es: die Gemeinwohl-Ökonomie, ein an demokratischen Prinzipien orientierter Hybrid aus Kommunismus und Kapitalismus. Man muss es nur mal machen.

Prost, Leipzig 

Von Beginn an berichten wir im kreuzer über die Entwicklungen im Immobilienwesen, und es 
ist seit Jahren derselbe Befund: Wachstum, das heißt neue Wohnungen, gibt es fast ausschließlich im höherpreisigen Sektor, sprich Luxuswohnungen (zuletzt im Heft 02/2017). Das ist Spekulation. Sind die Leipziger plötzlich alle reich geworden? Und was passiert eigentlich mit dem Wohnungsmarkt, wenn die Politik des billigen Geldes mal vorbei ist? Der Wohnungsmarkt ist eine Zinsökonomie, Investitionen 
in Immobilien konkurrieren immer mit anderen zinsbringenden Anlagen wie Aktien zum Beispiel. Kurz gesagt: Das Geld, das gerade da ist, kann auch ganz schnell wieder abhauen. Das ist leider nicht nachhaltig. Gibt es Konzepte dafür, was passiert, wenn in Leipzig Tausende überteuerte Wohnungen leer stehen? Und wer soll überhaupt in den ganzen Jenseits-1.000-Euro-Kaltmiete-Butzen wohnen, die gerade überall in Form schneeweißer Betonkästen mit fußbodentiefen Fenstern aus der braunkohleschwangeren Leipziger Mittellandskrume emporschießen? Und was, Gott bewahre, passiert, wenn die Autobuden vor den Toren der Stadt mal nicht mehr sind? So was geht zuweilen schneller, als man denkt. Fragen Sie mal die Leute in Detroit City. Aber vielleicht können wir die ganzen schneeweißen Betonkästen dann wieder abreißen in einem städtebaulichen Projekt namens »Pakt der Vernunft«. Hatten wir schon? Egal. Auf die entstehenden Brachen stellen wir dann unsere Liegestühle, pflanzen einen Sonnenschirm in den Boden und öffnen ein schönes, kaltes Bierchen. Prost, Leipzig. ANDREAS RAABE

These 3

Die Menschen igeln sich zunehmend ein. Soziale Separierung und das Verschwinden des öffentlichen Raums verwandeln die Stadt in ein Dorf.

[caption id="attachment_60936" align="aligncenter" width="666"] Illustration: Jill Senft[/caption]

Rückzug in den Privatbunker

Lange Zeit saß die Stadtgeschichtsforschung einem Trugschluss auf. Städte seien aus Dörfern erwachsen, hieß es, waren also nichts weiter als die Vergrößerung und Verdichtung von Siedlungen. Nichts könnte falscher sein. Denn Städte haben eine andere Funktion, sind älter und gingen Sesshaftigkeit und Dorfgründungen voraus. Die ersten Stätten, die man Stadt nennen könnte, zogen die Menschen zur rituellen Versammlung an, markierten Orte des Zusammenkommens. Vor 12.000 Jahren errichtete eine Jäger- und Sammlerkultur im Südosten der heutigen Türkei ein Heiligtum: Göbekli Tepe wird als erstes Beispiel für die Keimzelle der Stadt gedeutet.

Was hat das mit Leipzig zu tun? Nun, der Blick zurück erinnert an das Wesen einer Stadt als sozialem Treffpunkt. Verflüchtigt sich dieses, wird die Stadt zum Dorf, oder besser: zu vielen Dörfern, in denen Menschen abgekapselt leben und von anderen, von ihrer Um- und Mitwelt nichts wissen wollen.

»Heute bedeutet Ordnung das Fehlen von Kontakt«, schreibt der Soziologe Richard Sennett in seiner Studie über die Genese der Stadt. 
Eine zunehmende soziale Fragmentierung zeigt sich auch in Leipzig geografisch. Die Menschen igeln sich in Nachbarschaften und Siedlungsteilen vor Armen und anderen als nicht zugehörig und potenziell gefährlich empfundenen Menschengruppen ein. Sie wollen damit einerseits Kriminalität vorbeugen und sichere Umgebungen schaffen, andererseits im identitätsstiftenden Gefühl der exklusiven Gemeinschaft oder einer Gruppe mit gleichem kulturellem Kapital und Habitus Geborgenheit finden. Zwar ist das Phänomen der Gated Community – von Mauern und Zäunen umschlossene Wohnanlagen mit Zugangsbeschränkungen – hier noch nicht angekommen. Aber selbstverständlich existieren abgeschottete Stadthäuserreihungen, vergatterte Wohnblöcke mit hübschen Grillwiesen in der Mitte und dergleichen, wo sich Bewohner 
in geschlossenen Gruppen vor der Öffentlichkeit verstecken. Rein kommt man nur, wenn einer auf den Summer drückt. Ganze Nachbarschaften koppeln sich kokongleich ab – und missverstehen das auch noch als Individualisierungsgewinn.

Die umzäunten Gemeinschaften wollen nicht mit anderen Gruppen, mit der Gesellschaft zu tun haben. Sie isolieren sich vom städtischen Leben, gestalten ganze Stadtviertel zu hermetisch geschlossenen Panikräumen. In der Separierung reduziert man seinen Aufenthalt im öffentlichen Raum auf ein Minimum, während dieser immer mehr schwindet. Man schaue nur auf die Shopping-Center.

»Heute bedeutet Ordnung das Fehlen von Kontakt«

In diesen privaten Räumen, die öffentlich genutzt werden, sind die Besucher an besondere Verhaltensregeln gebunden, denen sie durchs Betreten abnickend zustimmen. Sie imitieren den Marktplatz als öffentlichen Raum, sind aber privatwirtschaftlich kontrollierte Einrichtungen mit Zutrittverweigerungsrecht, in denen soziale und politische Aktionen nicht gestattet sind. Willkommen sind die Konsumenten, solange sie mitspielen. Mit dem Paunsdorf-Center wurde früh ein solcher Gebäudetypus errichtet, innerstädtisch folgten die Promenaden im Hauptbahnhof und später die Höfe am Brühl. Wie die eingezäunten Wohnquartiere hausen sie ein eingeladenes Wir ein – andere, unerwünschte wie Bettler oder Menschen ohne Kaufkraft müssen leider draußen bleiben. Private Sicherheitsdienste signalisieren durch sichtbare Präsenz nicht nur Ordnung, sondern greifen bei vom Centermanagement unerwünschtem Verhalten sofort ein, etwa wenn jemand herumlungert. Jüngstes Leipziger Beispiel für diese Entwicklung ist die Musikbeschallung des Bahnhofsvorplatzes. Hier sollen unerwünschte Menschen sich nicht mehr aufhalten dürfen. Auch in der Innenstadt haben erst wieder einige Händler die Anwesenheit nichtkaufkräftiger Schnorrer beklagt.

Diese zwei Formen privater Bunkerarchitektur verschmälern den öffentlichen Raum als Lebensraum und Kontaktzone, wo sozialer Austausch – auch der ungewollte – stattfindet. Dieser muss aber als Aktionsfläche für gesellschaftliche Prozesse allgemein und öffentlich zugänglich sein. Alle Menschen sollen hier in Interaktion und Kommunikation treten können, nicht exklusive Gruppen. Der gemeinsam geteilte Raum ist gesellschaftlicher Kitt, während die Segregation den sozialen Kontrakt, der dem urbanen Zusammenleben zugrunde liegt, brüchig macht. Ohne Zusammenkommen, die Möglichkeit, einander kennenzulernen, entsteht keine Solidarität zwischen den Gruppen und kommt Empathie gar nicht erst auf. Die Quintessenz des Urbanen ist laut Stadttheoretiker Henri Lefebvre »der Punkt der Begegnung, der Ort einer Zusammenkunft, die Gleichzeitigkeit. Diese Form hat keinerlei spezifischen Inhalt, aber alles drängt zu ihr, lebt in ihr.« Diese Form verschwindet. Leipzig droht zum Dorf zu werden. TOBIAS PRÜWER


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