Nur mal vorweg: Bei der Nutricard geht es nicht um die Biberratte Nutria, sondern um den englischen Begriff nutrition, zu Deutsch: »Ernährung«. Den Begriff haben Wissenschaftler gewählt, die den Kampf gegen falsche Ernährungsgewohnheiten und zu viel Fastfood aufgenommen haben und dafür »herzgesündere« Lebensmittel entwickeln.
Wie bei einer Veranstaltung an der Universität Leipzig kürzlich bekannt gegeben wurde, ließen sich nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation 80 Prozent der Herz-Kreislauf-Erkrankungen durch eine Änderung der Ernährung und des Lebensstils verhindern. Sogenannte kardiovaskuläre Erkrankungen sind für rund 40 Prozent aller Todesfälle verantwortlich. Viele Konsumenten geben zwar an, Wert auf eine gesunde Ernährung zu legen, setzen das im Alltag aber kaum um. Wirklich abhelfen lässt sich dem nur mit neuen Angeboten, die die alten ersetzen, ohne dass der Verbraucher Nachteile sieht oder seine Gewohnheiten umstellen müsste. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) hat 2015 die Förderung des Kompetenzclusters »Nutricard« ins Leben gerufen und dafür bisher knapp 5 Mio. Euro bewilligt. Die erste Förderphase dauert noch bis Ende April 2018. Insgesamt sind rund 40 interdisziplinäre Wissenschaftler der Universitäten in Jena, Halle/Saale und Leipzig beteiligt. Das Leipziger Team forscht unter Leitung von Tobias D. Höhn (Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft), Claudia Luck-Sikorski und Steffi G. Riedel-Heller (Institut für Sozialmedizin, Arbeitsmedizin und Public Health & Integriertes Forschungs- und Behandlungszentrum Adipositas-Erkrankungen).
Nutricard-Würste sind wie echte Würste, nur gesunder
Konkret im Fokus steht dabei bisher Wurst. Und weil der gesundheitliche Verbraucherschutz traditionell von Tierärzten bearbeitet wird, entwickelt und produziert das Institut für Lebensmittelhygiene an der Fakultät für Veterinärmedizin neue Varianten von traditionellen Sorten. Die Wurstmanufaktur des von Peggy Braun geleiteten Instituts hat 2017 die ersten marktreifen Produkte entwickelt: Lyoner, Hausmacher Leberwurst und Mettwurst. Warum gerade Wurst? »Für 75 Prozent der befragten Menschen sind Fleisch und Wurst täglich oder wöchentlich elementare Bestandteile ihrer Ernährung. Für uns war damit klar, genau dort anzugreifen, um deren Nährstoffprofile zu verbessern«, begründet Braun die Auswahl. Nutricard setzt bereits bei der Rohstoffauswahl an: Der Magerfleischanteil wird erhöht, statt chemischer werden nur natürliche Fettaustauschstoffe eingesetzt und der Fettanteil mittels ungesättigter Fettsäuren optimiert, indem mehr pflanzliche Proteine und Ballaststoffe tierisches Fett ersetzen. Peggy Braun: »Die Herausforderung besteht darin, Konsistenz und Geschmack so zu gestalten, dass der Verbraucher die Wurst akzeptiert und gern isst. Zudem muss die Verarbeitung auch in kleinen Metzgereibetrieben möglich sein, damit sie breitenwirksam hergestellt und vertrieben werden kann.«
Wie schmecken denn nun die herzgesunden Würste? Rein äußerlich unterscheiden sie sich nicht von den nach traditionellen Rezepturen hergestellten fettreichen Gesellen, nur der fette Glanz, den so manche Wurstpelle ziert, fehlt. Zum Probieren in Scheiben geschnitten, sind auch innerlich optisch keine Unterschiede erkennbar, weder in der Farbe noch in der Konsistenz. Man muss natürlich ein Wurstesser sein, um auch geschmacklich zu erkennen, ob die Qualität stimmt und der jeweils typische Geschmack getroffen worden ist. Vegetarier und Veganer sind hier wahrscheinlich längst aus dem Text gestiegen, denn die Würste enthalten tierische Rohstoffe – es geht bei dem Projekt aber auch nicht darum, komplett fleischfreie Lebensmittel zu entwickeln, sondern gesündere. Eine Nutricard-Lyoner ist und bleibt im Kern eine Lyoner, und auch Hausmacher Leberwurst und Mettwurst sind genau das, was draufsteht: echte Wurst.
Die herzgesunde Forschung geht weiter: Zu den nächsten Aktivitäten am Nutricard-Standort Leipzig gehört der Aufbau eines Ernährungs- und Forschungstransfer-Netzwerkes mit Lebensmittelherstellern, der Bundeswehr und dem Studentenwerk. Perspektivisch ist ein Mitteldeutsches Zentrum für Ernährung (MEZ) mit Standorten in Halle, Jena und Leipzig geplant. Als einer der ersten größeren Partner hat Nutricard die Agrargenossenschaft Laas gewonnen, um Produktion und Vertrieb von der Wissenschaft in die Praxis zu führen. Was aus Sicht der Autorin noch fehlt, ist ein Markenname, der bei Otto Normalverbraucher Akzeptanz findet. Bei einer kleinen Umfrage im privaten Kreis assoziierten Kollegen und Freunde Nutricard sofort mit Nutria. Und das ist es eben nicht!