Die schönste Zeit im Leben von Christin Melcher war, als sie sich im Stura engagierte. »Da haben wir von morgens bis nachts Politik gemacht«, erzählt sie. Das macht sie heute immer noch, inzwischen ist sie Vorstandssprecherin der Grünen in Sachsen. Bei einem Kaffee schimpft sie über die CDU und erklärt, was ihre Wohnung mit der Gesellschaft zu tun hat.
kreuzer: Sie haben Logik studiert. Hilft das im Leben?
CHRISTIN MELCHER: Logik und Philosophie. Man sagt immer, das sei eine brotlose Kunst. Ich glaube aber, dass das ziemlich hilfreich ist, um politische Zusammenhänge zu analysieren und argumentativ zu verstehen.
kreuzer: Wie sind Sie zu den Grünen gekommen?
MELCHER: Schlussendlich hat mich die Situation der Kita-Politik der Stadt dazu bewogen. Ich habe 2009 ein Kind bekommen und fand die Suche nach einem Kita-Platz katastrophal. Ich habe nicht verstanden, warum die Eltern gezwungen werden, 100 Kitas abzutelefonieren, und das nicht zentral über die Stadtverwaltung laufen kann, beispielsweise über ein System, bei dem man sich anmelden kann und fünf Wunscheinrichtungen angibt. Damals waren die Grünen sehr offen dafür, dass sich Leute in diesem Bereich engagieren. Also bin ich Mitglied geworden, weil ich das Gefühl hatte, dass ich da vernünftige Kita-Politik auf kommunaler Ebene machen kann. Dann bin ich sehr schnell in den Vorstand gewählt worden. Ich glaube,
ich bin am Dienstag in die Partei eingetreten und am Sonnabend war ich im Vorstand.
kreuzer: Das sagt uns mehr zum Zustand der Grünen als über Sie …
MELCHER: Nein, ich glaube, dass man einfach offen ist für Leute, die was machen wollen – und darum gehts.
kreuzer: Rückblickend betrachtet, wie erfolgreich war denn die Kita-Initiative?
MELCHER: Sehr erfolgreich. Die Stadt hat gerödelt, um unsere Forderungen umzusetzen. Sie hat versucht, uns bei der zentralen Anmeldung ein Stück weit entgegenzukommen, auch wenn sich Schwierigkeiten bei der technischen Umsetzung ergeben haben.
kreuzer: Es meldet aber immer noch jeder einzeln sein Kind in der Kita an.
MELCHER: Es gibt immer noch erhebliche Probleme. Die Leipziger Kita-Initiative ist ein Sprachrohr für Eltern geworden. Der Gesamt-Elternrat ist für die Eltern da, die schon einen Kita-Platz haben, aber die Anliegen der suchenden Eltern wurden vorher nie wirklich ernst genommen. Unser Wunsch war, nicht nur die Eltern zu vertreten, die schon einen Kita-Platz haben, sondern auch die, die einen Platz suchen.
kreuzer: Die Qualität der Kitas, vor allem der Betreuungsschlüssel ist in Sachsen der schlechteste deutschlandweit. Was tun die Grünen noch, um die Landesregierung zu bewegen?
MELCHER: Das kritisieren wir ja seit Jahren, dass der Betreuungsschlüssel skandalös ist. Er muss endlich auch tatsächlich der Betreuungszeit entsprechen. Urlaubszeiten, Vor- und Nachbereitungszeiten fließen momentan überhaupt nicht mit ein. Und: Wir haben in Sachsen Erziehermangel. Es wird zwar ausgebildet, aber es gehen viel zu viele weg. Wir wollen natürlich, dass die Erzieherinnen und Erzieher mehr Geld verdienen, das ist ein wichtiger Punkt. Wir Grüne wollen einen Teil der Erzieherausbildung an die Unis verlagern, wie das ja in skandinavischen Ländern gang und gäbe ist.
kreuzer: Nach dem Kindergarten kommt die Schule. Was sind da grüne Konzepte? Oder fragen wir anders: Wo liegen erst mal die Probleme?
MELCHER: Das größte Problem in Leipzig ist der Schulhausbau. Leipzig ist ja geschrumpft bis 2009, aber seitdem haben wir einen enormen Zuzug. Schulen wurden geschlossen und jetzt muss man relativ schnell handeln, um sie wieder aufzubauen und neu zu bauen. Eigentlich hätte damit in dem Moment, als das Kita-Platz-Problem deutlich wurde, angefangen werden müssen. Das ist nicht passiert. Jetzt hängt man hinterher, das ist kommunale Verantwortung.
Auf Landesebene ist der Lehrermangel das entscheidende Thema. Aber die Herausforderungen sind im gesamten Bildungsbereich enorm: Wir schaffen die Digitalisierung nicht, weil wir nur über Lehrermangel reden. Wir schaffen es nicht, innovative Projekte an Schulen umzusetzen, zum Beispiel den Schulbau neu zu denken: Wie kann eine Schule in einem Quartier wirken? Wie kann die Elternarbeit verstärkt werden? So weit wird gerade nicht gedacht, weil wir gezwungen sind, durch das jahrelange Versagen der CDU-geführten Staatsregierung erst mal die Lücken zu schließen, sprich den Lehrermangel zu beheben. Wir wollen, dass alle Lehrkräfte, egal welcher Schulart, gleich bezahlt werden, und zwar wesentlich besser. Wir wollen das Landesamt für Bildung so umbauen, dass es sich auch als Dienstleister für die Lehrkräfte begreift und sich wirklich bemüht, mehr Lehrkräfte zu bekommen. Im Landtag haben wir einen Antrag durchbekommen – was selten passiert –, die Quereinsteiger besser zu qualifizieren. Eine weitere Forderung ist, das pädagogische Personal zu entlasten, um sich auf die Kernaufgaben zu konzentrieren. Sinnvoll wären auch selbstständige Schulen mit Schul-Budgets, damit sie gewisse nichtpädagogische Arbeiten auslagern können.
kreuzer: Jetzt habe ich ganz oft schon gehört, »da muss Budget zur Verfügung gestellt werden«. Woher soll es denn kommen?
MELCHER: Dem Land Sachsen geht es so gut wie nie. Es ist so viel Geld im Haushalt, es fehlt nur der politische Willen der Regierung. Da bin ich knallhart.
kreuzer: Und wo soll dann weniger ausgegeben werden?
MELCHER: Die wirtschaftliche Lage in Sachsen ist top. Es gibt beispielsweise viele Gelder von Bundesebene, die überhaupt nicht weitergereicht werden. Der Bund hat im Zuge der Einführung des Rechtsanspruches Geld für den Kita-Ausbau bereitgestellt, die Gelder wurden jahrelang nicht an die Kommunen weitergereicht. Es muss den politischen Willen geben, um in die Zukunft der Kinder zu investieren. Der fehlt komplett in der Landesregierung.
kreuzer: Sie selbst wohnen im Pöge-Haus, eine Art Hausprojekt. Warum tun Sie sich das an?
MELCHER: Ich finde dieses gemeinschaftliche Leben zusammen mit anderen Familien und Lebensformen total bereichernd. Ich kann jederzeit zu meiner Nachbarin gehen und nach drei Eiern fragen für Eierkuchen oder nach ein bisschen Tabak. Wir haben eine Kulturetage, in der auch ganz viele politische Veranstaltungen stattfinden. Ich finde es schön, mit verschiedenen Menschen mit verschiedenen Hintergründen zusammenzukommen, um dort neue Impulse für das eigene politische Leben mitzunehmen.
kreuzer: Sind solche Hausprojekte etwas, was jeder machen kann?
MELCHER: Es gab diese Phase in Leipzig, in der man das hätte machen können. Heute ist es allein dadurch, dass die Häuser weg oder nicht mehr bezahlbar sind, fast unmöglich geworden, Freiräume zu schaffen. Ich halte sie aber für wichtige Projekte im Hinblick auf Gesellschaftsformen oder den sozialen Zusammenhalt in unserer Gesellschaft.
kreuzer: Inwiefern?
MELCHER: Weil es nicht mehr nur um mich geht, sondern ich die ganze Zeit meine Befindlichkeiten oder meine Bedürfnisse mit anderen abgleichen und mit ihnen ins Gespräch kommen muss.
kreuzer: An Hausprojekten wird oft kritisiert, dass das eigentlich nur was ist für Menschen, die sehr viel kulturelles Kapital mitbringen, sprich: Akademiker, Kulturarbeiter und so weiter. Also ein Spielplatz für nur ein ganz schmales Segment der Gesellschaft.
MELCHER: Nein. Es gibt solche Wohnformen in jeglichen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens – beispielsweise das altersgerechte Wohnen. Das ist ja am Ende immer das Gleiche, ob die jetzt immer ein kulturelles oder soziales Kapital haben, sei mal dahingestellt. Ich finde es einfach spannend, und am Ende sind das die Menschen, die es jedes Mal auskleiden.
kreuzer: Kann man daraus etwas für die Stadtentwicklung lernen?
MELCHER: Ja, natürlich. Leipzig wächst. Wir haben enorme Probleme und einen angespannten Wohnungsmarkt. Jetzt drängen wir gerade auf Stadt- und Landesebene auf mehr sozialen Wohnungsbau. Aus meiner Sicht ist es zwar richtig, dort mehr Geld zu investieren. Aber wir reden beim sozialen Wohnungsbau von maximal 15 Jahren, in denen die Wohnungen an einen festen Mietpreis gebunden sind. Danach läuft das wieder aus. Wir brauchen aber eine nachhaltige Stadtpolitik, also einen Wohnungsmarkt, der den Bürgerinnen und Bürgern gehört. Und da sind Hausprojekte und Genossenschaftsmodelle eine wichtige Antwort darauf, der Bürgerschaft ihre Stadt wieder zurückzugeben. Ich glaube, dass Leipzig für solche Projekte flächendeckend Gebäude zur Verfügung stellen sollte.
kreuzer: In Sachsen hat die NPD – nicht die AfD – zum Teil zwei-, bis dreimal so viele Stimmen wie die Grünen auf dem Land. Was machen Sie falsch?
MELCHER: Ja, das ist dramatisch. Wir Grüne haben seit der Bundestagswahl aber einen enormen Mitgliederzuwachs, innerhalb der zwei Wochen nach der Wahl 70 neue Mitglieder. Das ist enorm für eine Partei unserer Größe.
kreuzer: Insgesamt haben die Grünen in Sachsen nicht einmal 1.600 Mitglieder. Das ist bei vier Millionen Einwohnern kein Anlass für Jubel, oder?
MELCHER: Das ist immerhin der größte ostdeutsche Landesverband. In Thüringen reden wir von 700 Mitgliedern. Auch auf dem Land haben wir Zuwachs, in manchen Kreisverbänden über 10 oder 20 Prozent. Das macht uns schon Hoffnung.
kreuzer: Wenn im Kreisverband zwei Leute sind statt einem, hat man auch 100 Prozent mehr Mitglieder.
MELCHER: Das ist jetzt böse.
kreuzer: Aber nicht weit von der Realität entfernt.
MELCHER: Es bleibt natürlich eine Herausforderung. Nazi wird man leicht, indem man nur ein paar Parolen brüllt. Ich glaube aber, dass Politik komplexer ist. Und das ist unser Problem, komplexe politische Entscheidungsprozesse so herunterzubrechen, dass die Leute vor Ort auch wissen, was es bedeutet, wenn sie Grün wählen.
kreuzer: In Leipzig haben in manchen Wahlkreisen mehr als 15 Prozent die Grünen gewählt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Landbevölkerung so viel unfähiger ist, die Komplexität von Politik zu begreifen.
MELCHER: Es liegt eher an den Strukturen. Wenn die Mitglieder in ländlichen Kreisverbänden zu jeder Veranstaltung mit dem Auto 150 km fahren müssen, ist das ein Problem. Oder wenn sie für jedes Plakat, was im Dorf XY aufgehängt werden soll, eine Genehmigung bei der jeweiligen Gemeinde einholen müssen, überlastet das diejenigen, die vor Ort aktiv sind, enorm. Diese Hürden habe ich ja in Leipzig gar nicht, wo wir 460 oder 480 Mitglieder haben, die einfach ihre Plakate hinhängen können.
kreuzer: Aber das wird ja nicht nur den Grünen erschwert, sondern jeder Partei.
MELCHER: Genau, aber die anderen Parteien haben ganz andere Strukturen. Ich habe drei Angestellte in der Landesgeschäftsstelle, während die AfD bei 20 Prozent ja ganz andere finanzielle Mittel zur Verfügung hat. Oder die CDU mit
fast 60 Landtagsabgeordneten hat in der Fläche eine ganz andere Wirkung als unsere acht Abgeordneten. Dafür finde ich unseren Output immer noch sehr beeindruckend.
kreuzer: Die AfD hatte bis vor Kurzem überhaupt keine Strukturen, das ist eine Neugründung. Die haben offenbar irgendwas vermocht, was die Grünen nicht gekonnt haben.
MELCHER: Ja, Geld im Hintergrund. Dass da Darlehen geflossen sind, ist ja bekannt. Wir Grüne haben ein Problem mit den ganzen Großspenden, was bei der CDU, FDP, SPD komplett anders aussieht. Die fehlen uns natürlich. Aber da habe ich auch ein moralisches Gewissen.
kreuzer: Mit welchen Themen wollen Sie denn an die Landbevölkerung ran?
MELCHER: Wir führen schon seit Jahren intensiv Debatten: Wie schaffen wir es, den Strukturwandel hinzukriegen?
kreuzer: Also weg von der Kohle?
MELCHER: Wir haben beispielsweise mit den Menschen in der Lausitz ein Konzept für die Region nach der Kohle entwickelt. Wichtig ist uns bei unseren Regionalkonzepten, dass wir die Regionen einzeln begreifen. Die Herausforderungen im Erzgebirge sind ganz andere als in Schkeuditz. Was aber alle Regionalkonzepte durchzieht, ist, die Energiewende auch als Chance zu begreifen. Sie mit Wirtschaft und Ökologie zusammen zu denken. Ein zweiter roter Faden ist die Anbindung des öffentlichen Personennahverkehrs. Wir haben so viele Streckenstilllegungen erlebt durch die CDU – das ist echt der Wahnsinn. Ganze Regionen in Sachsen sind abgekoppelt. Wir können auch die wachsende Stadt Leipzig nicht unabhängig vom sich leerenden ländlichen Raum denken. Durch bessere Verkehrsanbindungen würden sicher mehr Familien raus aufs Land ziehen.
kreuzer: Sie haben eigene Landesarbeitsgruppen für Tierschutz, Geschlechtergerechtigkeit, für Christen, für Hochschule, aber es gibt nur eine für Soziales und Gesundheit, die sich noch um die Rente und Pflege kümmern muss und um den Verbraucherschutz. Warum ist soziale Gerechtigkeit kaum ein Thema?
MELCHER: Weil man wenig auf Landesebene umsetzen kann. Ich war jetzt permanent unterwegs bei den Neumitgliedertreffen im Land in den verschiedenen Kreisverbänden. Das Thema treibt wirklich viele Menschen um und zu uns, aber es gibt nur wenig Bereiche mit landespolitischer Zuständigkeit. Auf Bundesebene sieht das ganz anders aus.
kreuzer: Man könnte von der Landesebene wieder runterwirken auf die kommunale Ebene, beim Thema Sozialwohnungen zum Beispiel. Gleichstellung wird ja auch größtenteils im Bund gemacht und konkret in der Kommune, deswegen hat uns die Differenz so gewundert.
MELCHER: Ich nehme das nicht als Differenz wahr. Ich glaube, dass wir Ökologie und soziale Gerechtigkeit immer zusammen denken.
kreuzer: Sind Ökologie und soziale Gerechtigkeit nicht völlig verschiedene Themen?
MELCHER: Uns wird oft vorgeworfen, dass man das gegeneinander ausspielt und dass sich, beispielsweise, Bio-Lebensmittel nun mal nicht jeder leisten kann. Unsere Herausforderung ist, die soziale Situation so zu verbessern, dass Leute in der Lage sind, sich ökologisch zu ernähren. Das heißt, dass sie eben nicht in prekären Beschäftigungsverhältnissen sind, sondern eine gesicherte Existenz haben und darüber nachdenken können, wie sie konsumieren.
kreuzer: Was wir auch vermisst haben, war die Arbeitsgruppe Innere Sicherheit oder Sicherheit allgemein.
MELCHER: Es gibt die Arbeitsgruppe Demokratie und Recht.
kreuzer: Das ist nicht ganz dasselbe.
MELCHER: Ich glaube, dass wir gerade auf Landesebene da ein sehr starkes Profil und mit Valentin Lippmann einen sehr profilierten Innenpolitiker haben, der immer wieder den Finger in die Wunden legt. Unsere Vorstellung von Innerer Sicherheit hängt eng mit den Bürgerrechten und der Demokratie zusammen, also ist das da sehr gut aufgehoben.
kreuzer: Wie genau?
MELCHER: Zum Beispiel hat die Landtagsfraktion ein Versammlungsfreiheitsgesetz vorgelegt, dass sich die Polizeibehörden, aber auch die Ordnungsbehörden als Dienstleister begreifen und dort kooperativer mit Versammlungsanmeldern umgehen sollen, denn Versammlungsfreiheit ist ein hohes Gut in der Demokratie. Das Polizeigesetz, was jetzt von der Regierung kommen soll, ist hingegen ein Gruselkabinett an Überwachungsmaßnahmen. Da setzen wir ganz andere Schwerpunkte, weil wir der Meinung sind, wir müssen die Leute und die Bürgerrechte nicht noch mehr einschränken, sondern eine Bürgergesellschaft dazu befähigen, Demokratie zu leben.
kreuzer: Wie kriegt man diesen Spagat hin zwischen Sicherheitskräften und den Bürgerrechten?
MELCHER: Was die CDU ja die ganze Zeit macht, ist, zu kürzen, zu kürzen, zu kürzen. Es fehlen zigtausend Polizeibeamte im Land, also hat man dieses Konstrukt mit der Wachpolizei geschaffen, die nach drei Monaten Ausbildung schon die Waffe in die Hand bekommt. Das ist unsäglich, was dort passiert. Unser Antrag, dass wir in jeder Stadt über 10.000 Einwohner ein Polizeirevier haben wollen, ist krachen gegangen. Die CDU, die Partei der Inneren Sicherheit, lehnt so etwas ab, da fasst man sich an Kopf. Wir wissen alle, dass Videoüberwachung und diese ganzen Maßnahmen keine Gewalttaten verhindern, sondern immer nur im Nachgang hilfreich sind. Sie passen aber in das Gesamtsystem der sächsischen CDU, die permanent Angst schüren und nicht die Bürgerin und den Bürger an sich befähigen will.
kreuzer: Apropos Angst schüren. Wird die AfD die Wahl gewinnen?
MELCHER: Das wäre bundesweit ein Desaster und würde auch eine eklatante Außenwahrnehmung entfalten. Es liegt an uns, an den Demokratinnen, das zu verhindern. Ich glaube, dass wir uns wirklich klarmachen müssen, in welche Richtung Sachsen sich entwickeln soll: Wollen wir eine Renationalisierung? Eine geschlossene Gesellschaft? Angst vor dem Fremden? Ein Gegeneinander-Ausspielen von den Ärmsten gegen die Schwächsten? Oder wollen wir wirklich hin zu einer Politik der Solidarität, des funktionierenden Gemeinwesens, einer offenen und inklusiven Haltung? Das wird der Scheideweg sein, den wir kommunizieren müssen.
kreuzer: Aber Angstschüren funktioniert. Pegida protestiert gegen die Islamisierung – bei 1,2 Prozent Muslimen in Sachsen. Wie geht die Logikerin mit solchen unlogischen Ängsten um?
MELCHER: Ich glaube, Pegida ist Ausdruck einer Desorientierung. Wir hatten einen Systemumbruch 1989, dann eine fast 28-jährige CDU-geführte Staatsregierung, die Demokratie nicht gelebt hat, sondern das obrigkeitsstaatliche Denken weitergeführt hat. Vielen Menschen sind demokratische Grundwerte, wie das Ringen
um Positionen, das Finden eines Konsens, die sachliche Debatte, einfach fremd. Das merkt man auch bei Pegida, da geht es ja nur darum, Parolen zu schreien. Wir müssen viel mehr über Bürgerbeteiligung vor Ort reden, die Leute ernst nehmen, Komplexität von Politik runterbrechen, Entscheidungen mit den Bürgerinnen und Bürgern zusammen finden und ihnen den Mut geben, sich einzubringen. Dann sehen sie auch, dass ihre Meinung etwas wert ist.