anzeige
anzeige
kreuzer plus

»Das tut sehr weh«

Der Kunsthistoriker Arnold Bartetzky über sexy Denkmalpflege, Schuhkartonarchitektur und die Stadt in 50 Jahren

  »Das tut sehr weh« | Der Kunsthistoriker Arnold Bartetzky über sexy Denkmalpflege, Schuhkartonarchitektur und die Stadt in 50 Jahren

Das Graphische Viertel, wo die kreuzer-Redaktion sitzt, ist ein eigenartiger Ort. Das findet auch Architekturkritiker und -professor Arnold Bartetzky, als er mit dem Rad zum Interview kommt. Viele der ehemaligen Verlagshäuser beherbergen Eigentumswohnungen samt ausladenden Blechbalkonen, deren Konstrukteure sich offensichtlich keine Frage nach der Qualität stellten.

kreuzer: Interessieren sich die Studierenden für die gebauten Formen der Geschichte?

ARNOLD BARTETZKY: In Maßen. Ich habe den Eindruck, Denkmalpflege ist bei Studierenden heute out. Denkmalpflege ist nicht mehr sexy.

kreuzer: Denkmalpflege und sexy?

BARTETZKY: Denkmalpflege war immer wieder ziemlich sexy, weil sie eine widerständige Komponente besaß. Denkmalpflege hat viel mit Häuserkampf in Frankfurt am Main oder auch der Hausbesetzer-Szene in West-Berlin zu tun. Häufig führten die subkulturellen Aktivitäten zu einem Bewusstseinswandel, der denkmalpflegerische Maßnahmen initiierte. In den siebziger Jahren waren das die Bürgerinitiativen, die Kampagnen gegen Flächenabrisse in Westdeutschland organisierten, in etwas anderer Form gab es das auch in Ostdeutschland. Mit anderen Worten: Die Denkmalpflege besaß eine widerständige Wurzel, und damit war sie durchaus sexy.

kreuzer: Was interessiert stattdessen?

BARTETZKY: Die Bauschicht, bei der man die Studierenden am besten packen kann, ist nach meinem Eindruck die Ostmoderne. Sogar das Stasi-Gebäude in der Großen Fleischergasse kann Begeisterung auslösen, gerade wegen seiner Sperrigkeit gegenüber dem heutigen ästhetischen Mainstream. Manche sind fassungslos, wenn man ihnen sagt, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit zumindest weite Teile davon abgerissen werden.

kreuzer: Sie wurden 1965 im polnischen Zabrze geboren. Sind Sie dort aufgewachsen? Hat das mit Ihrem heutigen Beruf zu tun?

BARTETZKY: Ich bin dort als Sohn deutsch-polnischer Eltern geboren und habe meine ersten 13 Lebensjahre in einer ländlich geprägten Kleinststadt südlich von Katowice, unweit des oberschlesischen Kohlereviers verbracht, bis meine Eltern mit uns zwei Kindern nach Hannover übergesiedelt sind. Was das mit meinem Beruf zu tun hat? Durch diese Biografie ist Polnisch meine Erstsprache, und ich spreche es immer noch, zum Beispiel mit meinem Vater. Beruflich beschäftige ich mich nicht nur, aber vielfach mit der östlichen Hälfte Europas, ganz besonders auch mit Polen, und da ist mir die polnische Sprache eine große Hilfe. Aber das sind meinerseits keine nostalgischen Studien, mit denen ich zu meinen Wurzeln zurückwill. Das hat sich einfach so ergeben, und ich bin froh darüber.

kreuzer: Ihre Familie zog 1978 nach Hannover. War das ein großer Bruch von einer ländlichen Gegend in Polen nach Niedersachsen?

BARTETZKY: Oh ja! Die Bundesrepublik war damals in den Augen des oberschlesischen Kindes das gelobte Land voller Verheißungen. Ich war vorher nie in Westdeutschland gewesen und die Ankunft in Hannover war ein Kulturschock. Ich kann mich daran erinnern – so gerne und so leidenschaftlich ich in den ersten Wochen mit meiner Mutter in die Kaufhäuser gegangen bin, ich bekam Kopfschmerzen von der Mischung von Großstadt und Überreizung mit Konsumangeboten.

kreuzer: Wie funktionierte die Integration?

BARTETZKY: Das war ein Wurf ins kalte Wasser. Als wir im Sommer 1978 ankamen, konnte ich gut genug Deutsch für ein normales Gymnasium. Ich beendete die sechste Klasse in Polen und ein paar Wochen später war ich in der siebten Klasse in Hannover. Es war klar, dass nun ein neues Leben beginnt, in dem es kaum Brücken zur Vergangenheit in Polen gibt. Das war natürlich nicht ganz einfach, aber es hat eigentlich bei uns sehr gut geklappt. Es war eine ganz andere Zeit. Die Bundesrepublik war noch viel aufnahmefähiger für Ankömmlinge.

kreuzer: Wie wirkte Hannover auf Sie?

BARTETZKY: Hannover ist eine Stadt der Nachkriegsmoderne. Stark zerstört, war es in der Zeit des Wiederaufbaus von den Stadtplanern in ganz Deutschland vielbeachtet und für mutige städtebauliche Konzepte bewundert. Die moderne Architektur hat mir damals durchaus gefallen. Schockierend war aber manchmal die Unfreundlichkeit der Leute. Ich wurde zum Beispiel von Rentnern beschimpft bis zu Handgreiflichkeiten, wenn ich, damals noch unverkennbar ein Kind, mit dem Fahrrad durch die Fußgängerzone fuhr. Und ich habe in Hannover das deutsche Wort »Zumutung« gelernt. Das Wort wird wohl in keiner Stadt so klangvoll ausgesprochen wie in Hannover – da war vieles sehr schnell eine Zumutung. Seitdem ist aber Hannover deutlich entspannter geworden, ebenso wie die ganze Bundesrepublik.

kreuzer: Mitte der neunziger Jahre kamen Sie nach Leipzig. War das eine Zumutung?

BARTETZKY: Nein, ganz im Gegenteil. Vorher hatte ich in Freiburg, Tübingen, Krakau und Berlin studiert. In Berlin, meinem letzten Wohnort vor Leipzig, hatte ich mich nie wirklich wohlgefühlt. Als ich hier ankam, war ich positiv voreingenommen. Es gab noch den Braunkohlegeruch im Winter, der schwer über der Stadt hing, die wenigsten Bauten waren saniert, die Stadt war ziemlich fertig. Von Aufbruch – »Leipzig kommt«, lautete der damalige Slogan – war in weiten Teilen der Stadt wenig bis gar nichts zu spüren. Das betraf Lindenau, wo meine Arbeitsstelle ansässig war, das betraf erst recht Leipzig-Ost, die Ludwigstraße, wo ich meine erste Wohnung hatte. Da hatte man nicht unbedingt den Eindruck, dass sich die Stadt in absehbarer Zeit gedeihlich entwickeln würde. Schockiert war ich aber nicht, denn ich bin ja ein Ost-Kind, und in den Städten meiner Kindheit dominierte auch das Schwarz-Grau des Sozialismus. Es ging mir damals nicht so wie vielen Westdeutschen, die einfach fassungslos waren und sagten: Das sieht hier aus wie nach dem Krieg. Ich fand Leipzig von Anfang an schön.

kreuzer: Ist Leipzig jetzt eine gerettete Stadt?

BARTETZKY: Man kann ja diesen Titel (»Die gerettete Stadt. Architektur und Stadtentwicklung in Leipzig seit 1989 – Erfolge, Risiken und Verluste«. Leipzig: Lehmstedt Verlag 2015, Anm. d. Red.) für ein bisschen pathetisch halten, vielleicht auch ein bisschen kitschig. Er rekurriert auf die Frage »Ist Leipzig noch zu retten?«, die der gleichnamige Film im November 1989 stellte. Er wurde noch vor dem Mauerfall im DDR-Fernsehen ausgestrahlt. In ihm wurde erstmals öffentlich über die Situation von Leipzig Tacheles geredet. Die Frage konnte kaum jemand der Befragten bejahen. Wenn man sich die Lage damals, die Aussichten, die Einschätzungen, Befindlichkeiten vor Augen führt, dann kann man sich schon wundern, wie viel von Leipzig doch gerettet wurde. Wenn wir von der historischen Bausubstanz sprechen, etwa 80 Prozent. Das übertrifft bei Weitem die damaligen Erwartungen. Insofern würde ich sagen: Leipzig ist eine gerettete Stadt. Das hätte kaum jemand zu hoffen gewagt.

kreuzer: Hat die Stadt trotzdem noch etwas von damals?

BARTETZKY: Am ehesten ist Leipzig noch in den östlichen Teilen wiederzuerkennen. Es sind nicht alle Gebäude saniert. In Teilen des Westens gibt es die Industriebrachen, die es in der DDR schon gab, die sich dann in der Nach-Wende-Zeit weiter ausgebreitet haben. Sie sind immer noch allgegenwärtig, allen Erklärungen Leipzigs zum Hotspot, zu »Hypezig«, zum »Better Berlin« und dergleichen zum Trotz. Es gibt aber auch die begehrten gründerzeitlichen Wohnviertel – Waldstraßenviertel, Teile der Südvorstadt, Gohlis-Süd, Schleußig –, die heute durchsaniert und in ihrem neuen Glanz kaum wiederzuerkennen sind. Man kann manchmal das alte Flair vermissen, aber man sollte die Vergangenheit nicht allzu sehr romantisieren. Das heutige Leipzig ist urbaner als das der neunziger Jahre.

kreuzer: Ganz ohne Romantisierung: Was zeichnet für Sie die Ostmoderne aus?

BARTETZKY: In den Formen ist die Ostmoderne kaum von der Westmoderne zu unterscheiden. Wenn man genauer hinschaut, gibt es zwar gewisse formale Unterschiede, die sind aber nicht so wesentlich wie die Unterschiede in den Funktionen und in den Produktionsbedingungen. In den sozialistischen Ländern hatte der Staat die Verfügungsgewalt über Grund und Boden. Anders im Westen, wo alle Stadtplaner und Architekten unabhängig von ihrer politischen Orientierung unisono sagten, dass man dort wegen der komplizierten Eigentumsverhältnisse eigentlich nicht vernünftig Städte planen könne.

kreuzer: Veränderte sich in den letzten Jahren die Wahrnehmung der Leipziger Ostmoderne?

BARTETZKY: Ja, sehr. Die Architektur aus stalinistischer Zeit – die Ringbebauung etwa – hatte niemals große Akzeptanzprobleme. Dann gab es einige moderne Sonderbauten wie das Gewandhaus, die Oper und vielleicht auch die Hauptpost, deren Qualität schon lange erkannt war. Fast alles andere galt in den neunziger Jahren im Grunde als entsorgungswürdig, und zwar nicht nur in erster Linie in den Augen der aus Westdeutschland stammenden, sondern vor allem der einheimischen Akteure. Es wendete sich erst nach 2000 langsam. Wie so oft waren es junge Leute und Künstler, die einen anderen Blick auf die Bauten entwickelt haben. Inzwischen ist die Ästhetik der Ostmoderne fast schon mehrheitsfähig.

kreuzer: Wie tickt Leipzig im Vergleich zu anderen Städten – etwa Potsdam oder Dresden?

BARTETZKY: Während man in Dresden und Potsdam sehr stark einer idealisierten früheren Epoche, die der Zerstörung zum Opfer gefallen ist, nachtrauert, ist in Leipzig die Haltung seit dem späten 19. und dem frühen 20. Jahrhundert ganz anders. Leipzig versteht sich schon lange als Stadt des Wandels. Das habe ich oft in Diskussionen gehört: »Wir haben immer den Mut gehabt, hier mal was wegzukloppen. Hätten wir die mittelalterliche Innenstadt nicht im späten 19. Jahrhundert zerstört, dann hätten wir jetzt unsere grandiosen Messepaläste nicht, die das Leipziger Flair ausmachen.« Dieser Mut zur Zerstörung, zum Neubau und zum Experimentieren gehört viel stärker zum Selbstbild von Leipzig als etwa in Dresden oder Potsdam. In diesem Selbstbild hat auch die DDR-Moderne eher einen Platz, auch wenn sie hier nach 1989 in ähnlichem Maße dezimiert worden ist. Es gibt immer mehr Initiativen gegen Abriss oder Überformung, von der Brühlbebauung bis zur Hauptpost.

kreuzer: Der aktuelle Bauboom führt zu fragwürdigen architektonischen Formen – etwa der weiße Schuhkarton mit raumhohen Fenstern. Wie schätzen Sie die derzeitige Verdichtung ein?

BARTETZKY: Leipzig war in den neunziger Jahren eine viel zu leere Stadt. Deshalb ist die Verdichtung gut. Sie führt zur Wiederbebauung von Brachen und Kriegslücken, auch wenn es um manchen Freiraum wirklich schade ist. Aber die Architekturqualität bleibt auf der Strecke.

kreuzer: Tut das weh?

BARTETZKY: Das tut sehr weh, wenn man sieht, was für ein Standard sich in Leipzig durchgesetzt hat. Man muss kein schrecklicher Kulturpessimist sein, um festzustellen, dass es trotz vieler guter Einzelleistungen in der Alltagsarchitektur, bei den ganz normalen Wohnbauten und Geschäftshäusern, nicht im Mindesten gelungen ist, an die Standards des 19. und 20. Jahrhunderts anzuknüpfen.

kreuzer: Wie würden Sie den Trend beschreiben?

BARTETZKY: Die heutigen Bauten erinnern in ihrem fehlenden Gestaltungsanspruch an Notbauten der Nachkriegszeit. Nichts gegen vornehmen Minimalismus, aber bei den weißen Kisten der Gegenwart kann man oft von totaler Architekturverweigerung sprechen. Fassaden bestehen aus Styropor-Dämm-Paketen mit Putz drauf. Man muss schon feststellen, dass sich die Architekten und Bauherren in den letzten Jahren zu wenig Mühe gegeben haben, anständige Lösungen zu finden.

kreuzer: Wird sich das ändern oder widersprechen sich Bauboom und Baukultur?

BARTETZKY: Es ist auf jeden Fall ein schwieriges Verhältnis. Neulich habe ich mir die Neubauten am Lindenauer Hafen angeschaut und mich gefragt: Warum gelingt es nicht, hier ansprechenden Stadtraum hervorzubringen? Und warum lassen sich Leute, die sich zum Teil für ihr ganzes Leben verschulden, um eine Wohnung zu kaufen, solche Hässlichkeit bieten? Etwas ratlos wird man da schon. Aber ich glaube, letztendlich bleibt uns nichts anderes übrig, als darüber zu reden.

kreuzer: Wie wird die Stadt in 50 Jahren aussehen?

BARTETZKY: Ich fürchte, viele Neubauten oder auch energetisch sanierte Altbauten werden wegen der Wärmedämm-Verbund-Systeme durchgeschimmelt sein. Die heute überwiegende Dämmpraxis mit Styroporverpackung ist das Gegenteil von Nachhaltigkeit. Ein Sondermüll-Problem ohnegleichen dürfte auf uns zukommen. Ob aber die Generation der jetzigen Kinder in zwanzig oder dreißig Jahren die heutigen Architekturformen noch so furchtbar finden wird, vermag ich jetzt nicht zu beantworten. Denn ich habe auch an mir selbst schon erstaunlichen Wahrnehmungswandel feststellen können. Es hätte sich im Jahr 1990 wohl auch niemand träumen lassen, dass sich heute irgendjemand für Grünauer Plattenbauten erwärmen könnte. Aber der Wahrnehmungswandel entbindet uns nicht von der Aufgabe, heutige Bauten nach heutigen Kriterien zu bewerten. Und so sollte man bei jeder Gelegenheit deutlich sagen, dass sich die heutige Alltagsarchitektur nicht als Standard durchsetzen sollte.

kreuzer: Kann die Stadt etwas dagegen tun?

BARTETZKY: Da sind der Stadt natürlich Grenzen gesetzt. Sie kann über einen privaten Lückenbau nicht sagen: Das gefällt mir nicht, das müsst ihr anders machen. Diese Art von ästhetischer Polizei ist nicht vorgesehen. Aber die Stadt besitzt schon ein paar Instrumente, um an der Baukultur zu arbeiten. Dazu gehören Wettbewerbe, der Leipziger Architekturpreis und das Gestaltungsforum. Es existieren ein paar Möglichkeiten, Fragen der Baukultur ins Bewusstsein zu rücken, und ich glaube, da müssten wir einfach weitermachen.

kreuzer: Es gibt aktuell zwei Baustellen in der Friedrich-Ebert-Straße: am Standort des abgerissenen Henriette-Goldschmidt-Hauses und einige Meter weiter Richtung Waldplatz, wo das sogenannte Märchenhaus stand. Damals wurde viel protestiert und geschrieben. Kann man zu dem Schluss kommen, dass Protest nichts erreichen kann?

BARTETZKY: Der Abriss des Henriette-Goldschmidt-Hauses und des Märchenhauses waren für mich journalistische Erweckungserlebnisse. Ich habe für die FAZ dagegen angeschrieben. Viele sagten damals: »Man wird diese Bauten nie mehr brauchen. Es herrscht ja schon so viel Leerstand. Und bei Bedarf kann irgendwann jemand an der Stelle ein neues Haus hinstellen.« Genau das passiert. Aber, das Problem habe ich damals schon gesehen: Wir bekommen die Qualität eines Henriette-Goldschmidt-Hauses oder eines Märchenhauses heute nicht mehr hin.

kreuzer: Geld baut und hat keinen Geschmack oder wie schätzen Sie das ein?

BARTETZKY: So würde ich das nicht sagen. Wer sind denn überhaupt die Akteure? Es hält sich die These in Architekturdebatten, wir hätten keinen Bauherren mehr. Wir hätten es heute nur noch mit anonymen Investoren und irgendwelchen Fonds zu tun, die kaum noch greifbar sind und überhaupt nichts mit der Stadt zu schaffen haben. Es fehlten dagegen die Stadtbürger als Investoren, die dauerhaft in der Stadt bleiben wollen und für sie Verantwortung übernehmen. Dass anonyme Investoren kein Sensorium für die Bedürfnisse der Stadt haben und sich gleichgültig gegenüber ästhetischen oder baukulturellen Fragen verhalten, klingt ja ganz einleuchtend. Aber es gibt auch viele Baugruppen und Eigennutzer. Das war die Hoffnung, die man mit der Stadthaus-Bauerei in den frühen 2000er-Jahren verknüpfte: Die Bürger, die sich langfristig an die Stadt binden, werden höhere Ansprüche an die für sie dauerhaft geschaffene bauliche Umgebung legen. Man muss einfach ernüchtert feststellen, dass das überhaupt nicht eingetreten ist. Ich glaube, dass es sich um ein allgemeines Bewusstseinsproblem handelt.

kreuzer: Kann man dagegen schreiben?

BARTETZKY: Ja. Es ist für die Architekturkritik sehr wichtig, dass sie sich der Alltagsarchitektur annimmt. Dass sie sich nicht in erster Linie auf die privilegierten Bauaufgaben stürzt, sondern auch auf überregionaler Ebene alltägliche Bauaufgaben exemplarisch behandelt. 

kreuzer: Im April findet das vierte bundesweite Forum Recht auf Stadt in Leipzig statt. Beschäftigen Sie sich mit Initiativen wie »Stadt für alle« und der Gentrifizierung?

BARTETZKY: Es ist auf jeden Fall ein wichtiges und für Leipzig aktuelles Thema. Aber kein einfaches. Ohne ein gewisses Maß an Gentrifizierung wären weite Teile von Leipzig baulich nach wie vor untergangsgefährdet. Zugleich ist es aber ein ganz fieser, geradezu perfider Prozess. Denn gerade die Akteure, die den Aufstieg eines Quartieres oder eines Stadtteils überhaupt ermöglichen, weil sie sich dort angesiedelt haben, also die Raumpioniere aus kreativen Milieus, sind oft die ersten Opfer der Gentrifizierung, weil sie die gestiegenen Preise nicht mehr bezahlen können.

kreuzer: Folglich ist die Wut darüber verständlich?

BARTETZKY: Ja, zumindest der Frust. Andererseits müssen wir aber irgendwie auch Investoren verstehen, die sagen, dass sie nicht bauen können, wenn sie nicht einen bestimmten Mindestquadratmeterpreis erzielen, in Leipzig dürften es derzeit vielleicht um die acht Euro sein, weil sie dann die Finanzierung nicht hinbekommen. Die Lösung kann am ehesten der öffentlich geförderte Wohnungsbau bieten, der in Zeiten des hohen Leerstands keine Rolle gespielt hat. Ein Zaubermittel ist er aber sicher auch nicht, ich würde mich hier vor wohlfeilen politischen Forderungen hüten.

kreuzer: Ist Leipzig auf dem Weg zu einer Gentrifizierungsmetropole?

BARTETZKY: Gentrifizierung ist seit Langem ein Riesenproblem in Großstädten des Westens wie München, Hamburg, Frankfurt oder Freiburg, wo auch Leute mit mittleren bis guten Einkommen an die Peripherie abgedrängt werden. Ähnliches zeichnet sich mittlerweile in Berlin ab. In Leipzig ist Gentrifizierung ein junges Phänomen, und die Formen sind nach wie vor vergleichsweise mild. Die Dynamik hat aber zugenommen, das Thema wird uns sicher weiter beschäftigen.


Kommentieren


0 Kommentar(e)