anzeige
anzeige
Politik

»Leute, hier läuft was tierisch falsch«

Digitale Karte von Leipziger Bildungsverein macht menschenfeindliche Ereignisse in der Umgebung sichtbar

  »Leute, hier läuft was tierisch falsch« | Digitale Karte von Leipziger Bildungsverein macht menschenfeindliche Ereignisse in der Umgebung sichtbar

Im Dezember letzten Jahres ist das Dokumentationsarchiv Ressentiment und Gewalt des Bildungsvereins Parcours online gegangen. Auf einer digitalen Karte sind menschenfeindliche Ereignisse für Stadt und Landkreis Leipzig, sowie Nordsachsen vermerkt. Max Hemman, Gründungsmitglied des Vereins, war mit dem kreuzer im Gespräch.

kreuzer: Ihr Verein bietet Workshops, Seminare und Projekte für Jugendliche an. Welche Idee steckt dahinter?MAX HEMMAN: Vor drei Jahren haben zwei Freunde und ich gemeinsam überlegt, dass wir gerne politische Bildungsarbeit machen würden und uns die bisherigen Formen dafür zu starr waren. Zudem wollten wir dem entgegentreten, was als Rechtsruck oder Backlash in der Gesellschaft bezeichnet wird.

kreuzer: Wie haben Sie diese gesellschaftliche Entwicklung denn wahrgenommen?HEMMAN: Man kann deutlich sehen, dass sowohl in Sachsen wie auch in Gesamtdeutschland, Angriffe auf gesellschaftliche Randgruppen, Geflüchtete und deren Unterkünfte, aber auch antisemitische Anfeindungen zunehmen. In meinem persönlichen Umfeld bekomme ich das nicht unmittelbar mit, weil man sich dann zugegebenermaßen in einer Wohlfühlblase befindet. Doch auch für antifaschistisches Engagement ist man definitiv mit Anfeindungen konfrontiert.

kreuzer: Wie ist es nun zum Dokumentationsarchiv und der digitalen Karte gekommen?HEMMAN: Viele Initiativen leisten wichtige und gute Dokumentationsarbeit, doch deren Ergebnisse sind oft nicht greifbar. Wenn man sich mit Menschen unterhält und dabei den Ort »Wurzen« erwähnt – dort kommt es regelmäßig zu rassistischen Angriffen und Anfeindungen – besteht meist kein Bewusstsein dafür, wie problematisch die Situation dort ist. Eine Karte erschien uns als gute Option, solche lokalen Schwerpunkte zu veranschaulichen. Es heißt ja auch immer so schön, Leipzig sei ein Gegenpol zum Rest von Sachsen. Aber über die Hälfte der von uns dokumentierten Fälle – insgesamt 175 Stück – sind in Leipzig passiert. Demnach ist es hier also fast jeden zweiten Tag zu einer propagandistischen Tat oder zu einem gewalttätigen Angriff gekommen.

kreuzer: Woher stammen die Daten für die Karte?HEMMAN: Unter anderem von dem Leipziger Projekt chronik.LE, die machen eine sehr gute und umfassende Dokumentation. Informationen stammen aber auch aus Antworten auf Landtagsanfragen und von der Opferberatung RAA Sachsen.

kreuzer: Bestätigt Ihr Projekt damit das gängige Bild von Sachsen als rechter Hochburg? Oder werden mit solchen Bildern vorwiegend Ressentiments bedient?HEMMAN: Zum großen Teil würde ich dieser allgemeinen Wahrnehmung von Sachsen leider zustimmen. Neben den erfassten Vorfällen gibt es ja auch wesentliche rechte Strukturen und Netzwerke hier. Wenn man sich vor Augen führt, wo der NSU seine maßgeblichen Unterstützer hatte, sind das Orte in Sachsen und Thüringen. Aber sich auf ein einziges Bundesland zu fixieren, geht am Thema vorbei. In Dortmund gibt es Kameradschaften, die auf städtischen Veranstaltungen Stadtpolitiker und Gewerkschaftsvertreter mit Flaschen bewerfen und Stöcken angreifen. Hier in Sachsen gibt es neonazistische Kaderstrukturen, die finanziell gut aufgestellt sind. Gerade im ländlichen Raum, also Landkreis Leipzig, Nordsachsen und Erzgebirge, besitzen Personen, die Kontakte zu verbotenen Organisationen wie Combat18 und Blood & Honour haben, Immobilien und Sonnenstudios. Wer weiß, wohin das Geld fließt.

kreuzer: Kann man auch selbst Vorfälle bei Ihnen melden?HEMMAN: Das ist möglich. Wir haben zwar kein Formular dafür, aber nehmen so Hinweise gerne per Mail entgegen. Dann würden wir dem nachgehen und den Hinweis prüfen, bevor etwas veröffentlicht wird, um vor Missbrauch und bewussten Falschmeldungen zu schützen.

kreuzer: In der Karte sind auch »Propagandadelikte« markiert. Was ist damit gemeint?HEMMAN: Das sind Ereignisse, bei denen versucht wird, manipulativ zu wirken. Das kann das Anbringen von Symbolen sein, aber auch Bedrohungen. Es gab in Leipzig 2017 einen Fall nach einem Spiel von RB Leipzig. Die Straßenbahn war komplett überfüllt und an einer Haltestelle wurden zwei People of Colour von Fußballfans mit der Ansage »Eure Kamele stehen weiter vorn« aus der Bahn geworfen. Sowas passiert tagtäglich. Und nicht nur von knallharten Rechtsextremen, sondern auch von RB Leipzig Fans.

kreuzer: Was muss sich Ihrer Meinung nach in Leipzig ändern? Haben Sie als Verein Forderungen an die Politik?HEMMAN: Wenn ich an Leipzig denke, würde ich mir einen kritischeren Umgang der Stadtgesellschaft mit diesen Themen wünschen. Selbstverständlich herrschen in Leipzig andere Verhältnisse als im sächsischen Umland – wie etwa in Hoyerswerda, wo es ausgerufene »national befreite Zonen« gibt. Der Schein trügt aber. Leipzig ist keineswegs der bunte, weltoffene Standort, bei dem nur genug junge Leute herziehen müssen, damit sich die Problematik von alleine auflöst. Es gibt auch hier genug Probleme und Ausgrenzungs- und Abwertungsfälle. Und in der aktuellen politischen Situation fällt die Perspektive der Opfer solcher Übergriffe meist unter den Tisch. Dazu bietet die Leipziger Rede der Gruppe »Rassismus tötet« ist ein sehr gelungenes Format, weil dort Menschen, die von rassistischer Diskriminierung betroffen und in Leipzig aufgewachsen sind, ein Podium bekommen, um über ihre Erfahrung zu sprechen. Sowas ist durchaus eine gute Option, um den Betroffenen eine Stimme zu geben und zu zeigen: Leute, hier läuft was tierisch falsch, auch wenn Ihr das nicht merkt.


Kommentieren


0 Kommentar(e)