Geht es wieder um was? Mehr Menschen in Sachsen wollen sich einmischen und treten in politische Parteien ein.
2014 war kein gutes Jahr für die parlamentarische Demokratie in Sachsen. Die AfD zog bundesweit erstmals in einen Landtag, das ist bekannt. Doch das drastischere Signal war eigentlich, dass weniger als die Hälfte, nämlich nur 49 Prozent der Menschen, die durften, überhaupt zur Wahl gingen. Das ist ein Negativrekord in der Geschichte des heutigen Freistaats.Gleichzeitig liefen den Parteien weiter überall die Mitglieder weg oder starben aus. Das ist seit dreißig Jahren so. Rund 40 Prozent ihrer Mitglieder haben die Parteien seit 1990 bundesweit verloren. Die Frage, ob und inwieweit diese Art der politischen Interessenvertretung noch imstande ist, die politische Willensbildung und Integration zu leisten, blieb weitgehend akademischen Kreisen vorbehalten. Dann kamen die Galgen, die bei Pegida in Dresden auftauchten und bestimmt waren für diverse Spitzenpolitikerinnen und -politiker. Da ließ es sich nicht mehr verheimlichen, da war dann auf einmal Krise. Vertrauenskrise, Glaubwürdigkeitskrise, Krise der politischen Öffentlichkeit.Die AfD jubelte. Laut Analysen der Wählerwanderungen konnte sie sogar Nichtwähler mobilisieren. Das zeige, wie gut die AfD für die Demokratie sei, sagte die damalige AfD-Parteichefin Frauke Petry 2016 nach der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt. Wahrscheinlich hatte sie recht. Ein »Anti-AfD-Effekt« mobilisiere ebenfalls Wähler, sagte der Chef des Meinungsforschungsinstituts Insa vor der Bundestagswahl gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters. Am Ende stand ein verhältnismäßig großes Plus bei der Wahlbeteiligung von fünf Prozent gegenüber 2013. Nahezu spektakulär ist allerdings, dass laut einer Studie der Freien Universität Berlin 2017 außer der CDU alle Parteien erstmals seit 1990 ein deutliches Mitglieder-Plus verzeichnen konnten. Ein Trend, der sich laut Autor Oskar Niedermayer bei der Linkspartei und den Grünen schon 2016 durch einen sogenannten »Trump-Effekt« bemerkbar machte.
»Tritt ein, sag Nein«
Auch in Sachsen tut sich was. Der Schulz-Hype bescherte der SPD Sachsen rund 400 neue Mitglieder, sie kommt jetzt auf knapp 5.000. Der Kühnert-Effekt fällt weniger stark aus, als man vielleicht erwartet hatte. Der Juso-Vorsitzende rief vor etwa einem Jahr dazu auf, in die SPD einzutreten, um gegen die Neuauflage der Großen Koalition zu stimmen. Vor allem in Leipzig ist das offenbar gut angekommen. Die deutliche Mehrheit der rund 160 sächsischen Neumitglieder ist dem Leipziger Stadtverband beigetreten. Fast genauso viele wie 2017, als der Schulz-Zug rollte – da meldeten sich die Hälfte aller Neueintritte in Leipzig.Erstaunlich findet das Irena Rudolph-Kokot, neue Vize-Vorsitzende des Leipziger Stadtverbands. Denn lange galt die Leipziger SPD als hoffnungslos zerstritten, der Vorsitzende warf letztes Jahr frustriert das Handtuch. Trotzdem sei viel Positives passiert in der Zwischenzeit, sagt Rudolph-Kokot. Neue Arbeitskreise und eine Juso-Schülergruppe gebe es jetzt in Leipzig. Aber natürlich hätten auch überregionale Effekte eine Rolle gespielt, glaubt sie: »Kühnert hat glaubhaft gezeigt, dass es auch eine andere SPD gibt.« Deshalb seien vor allem junge Leute in den Stadtverband eingetreten, aber auch alte Genossinnen und Genossen zurückgekommen – diejenigen, die der SPD in der Ära Gerhard Schröder und danach den Rücken gekehrt hatten.Georg Hackel gehört mit 29 Jahren zu den jüngeren Parteimitgliedern. Dem Informatikstudenten ging es tatsächlich um ein Nein zur GroKo, als er im Januar 2018 der SPD beitrat. Eine Neuauflage der Koalition von SPD und CDU will er auch in Sachsen nicht. »In meinem Umfeld bringt das keine Stimmen«, sagt Hackel. Obwohl die sächsische SPD-Spitze bisher eine andere Strategie fährt, ist Hackel insgesamt zufrieden. Er selbst geht jeden Monat zur Sitzung des Ortsvereins Süd-Ost. Die seltsamen Kleinkriege kennt er von dort auch, und »das macht es anstrengend«, findet Hackel, aber was erreicht habe er auch schon. Die Spitze seines Ortsverbands muss zukünftig paritätisch besetzt sein – eine Frau, ein Mann. Ein für die sächsische SPD peinliches Thema wird damit angegangen: Der Frauenanteil liegt gerade mal bei 25,6 Prozent. Gut für die SPD also, dass Constanze Müller (35) seit April 2018 dabei ist. Nicht wegen irgendeines Hypes, sondern weil sie eine eigene Agenda hat, die ihrer Ansicht nach gut zur SPD passt. Die Lehrerin und Kunstpädagogin will, dass Galerien und Museen Künstlerinnen und Künstler anständig vergüten. Das soll Gesetz werden und das geht sie im Arbeitskreis Kultur an, den sie mitgegründet hat.
Hauptsache sozial
»Gerechtigkeit steht für mich an erster Stelle, und da ist die Linkspartei ganz weit vorne«, sagt Mischa Kreutzer. Der 32 Jahre alte Ingenieur für Gebäudetechnik ist im September 2017 in Die Linke eingetreten. Jetzt arbeitet er aktiv mit bei der Gestaltung des Kommunalwahlprogramms. »Das Ergebnis der Bundestagswahl, gerade auch für Sachsen, war die Initialzündung, zu handeln«, sagt er. Ein fast typisches Motiv dieser Tage, meint Juliane Nagel, Stadträtin in Leipzig und Landtagsabgeordnete für Die Linke. Der Diplomfitnessökonomin Nancy H., auch sie ein Linke-Neumitglied, ging es vor allem um das soziale Profil der Partei. »Ich will in der Stadt etwas bewegen, ich will daran mitwirken, Knoten der städtischen Bildungspolitik auflösen.« Die 32-Jährige wohnt mit ihrem Mann und drei Kindern in der Südvorstadt und ist vom Mangel an Schul- und Kita-Kapazitäten unmittelbar betroffen.Beide Neulinge liegen mit 32 Jahren knapp über dem Durchschnittsalter bei Neueintritten, das in Sachsen bei 31 Jahren liegt. Bundesweit und in Sachsen ist die Linkspartei 2017 deutliche Gewinnerin bei denen unter dreißig. Doch das ist nur die halbe Wahrheit, denn die Partei ist vor allem im Osten hornalt. 2012 lag das Durchschnittsalter bei knapp 69 Jahren und heute immer noch bei 65. Ein Riesenproblem vor allem im Osten, denn trotz deutlich größerer Zuwächse als bei der SPD und den Grünen geht die Mitgliederzahl der zweitgrößten Partei in Sachsen immer noch leicht zurück und sank im letzten Jahr auf unter 8.000 in Sachsen. Eine Ausnahme ist der Stadtverband Leipzig, der wächst und hat mit rund 1.500 etwa ebenso viele Mitglieder wie die SPD.
Klasse statt Masse
Dass es auf Mitgliederstärke nicht unbedingt ankommt, zeigen die Grünen. Eine Zwergenpartei mit nicht mal 2.000 Mitgliedern in ganz Sachsen. Dies allerdings ist für die Grünen ein Höchststand, der sich einem sensationellen Wachstum um 22 Prozent zum Vorjahr verdankt. Mehr als ein Drittel der neuen Mitglieder traten erst in den letzten zwei Monaten ein. Hier könnte vor allem das starke Abschneiden der Grünen bei den Landtagswahlen in Bayern und Hessen ein entscheidender Faktor gewesen sein. Ähnlich wie bei SPD und Linkspartei wuchs sie vor allem in Leipzig. 40 Prozent, das sind 149 neue Mitglieder, kamen in den Kreisverband. Die Grünen sind außerdem die einzige Partei, die in Sachsen nie schrumpfte. Allerdings war der Zulauf, abgesehen von den letzten beiden Jahren, eher mäßig. Daniel Gerber trat 2017 ein, politisch aufgeschreckt durch die Wahl des US-Präsidenten Donald Trump. »Weil die sich am stärksten gegen den Klimawandel einsetzen«, begründet der 33-Jährige seine Entscheidung. Schon sechs Wochen nach seinem Eintritt wird er Sprecher der Landesarbeitsgemeinschaft Europa und ist mittlerweile Sprecher für Medien- und Netzpolitik. Vicki Felthaus ist seit rund anderthalb Jahren im Kreisverband Leipzig aktiv. »Da wird Politik ja praktisch«, sagt sie.
Dass neue Mitglieder, genau wie bei den anderen Parteien auch, in den Städten dazukommen, mache eine Profilbildung auf dem Land zusehends schwieriger. Die Leipzigerinnen und Leipziger können sich aber freuen: Der Patient lebt, wenn Parteieintritte ein Gradmesser sind für den Zustand der Parteidemokratie der Stadt.