Wie kann eine lebendige Erinnerungskultur im ehemaligen Leipziger Zwangsarbeitshaus aussehen? Ein Symposium, Ausstellungen und Ortsbegehungen auf dem Gelände der Riebeckstraße 63 suchen nach Möglichkeiten.
Der OrtAm Ende der Riebeckstraße, kurz vor der Prager Straße und dem Technischen Rathaus, säumen noch einige Meter sehr hohe Mauern den Wegesrand. Sie wehren Blicke auf das weitläufige Innere und die Gebäude aus Backstein ab, verwahren vor Kontakten, sperren ein und aus. Neben dem Pförtnerhäuschen ist an einem Backsteingebäude ein historisch anmutendes Relief zu sehen.
Der heutige Träger des Geländes Riebeckstraße 63 ist der Städtische Eigenbetrieb Behindertenhilfe. Den Gebäuden sieht man ihr Alter an. Vor einem Backsteinhaus liegen Bettgestelle auf der Wiese. In den Gängen riecht es nach Bohnerwachs und Desinfektionsmittel. Ein Haus wurde saniert, um bald als Kindergarten zu eröffnen. Dort verschwanden die Backsteine hinter einer hässlichen, braun gestrichenen Dämmmasse.
Das Gelände besitzt eine sehr dichte Geschichte. Auf Initiative der Grünen beschloss die Ratsversammlung im vergangenen Mai, dass daran erinnert werden sollte.
Die GeschichtenAm 8. November 1892 weihte der damalige Oberbürgermeister Georgi die Zwangsarbeitsanstalt St. Georg Thonberg ein. Das heute noch über den Eingang an der Riebeckstraße zu sehende Relief erinnert an den Vorgängerbau – das Georgenhaus. Dieses befand sich seit dem 18. Jahrhundert als Armen-, Zucht- und Waisenhaus an der Stadtmauer (heute Baustelle an der Goethestraße).
Hier an der Riebeckstraße konnten auf 28.000 Quadratmetern bis zu 450 Personen – Jugendliche, Frauen und Männer – diszipliniert werden. Als 1909 das Krankenhaus im Norden den Namen St. Georg erhielt, wurde die Institution in Städtische Arbeitsanstalt umbenannt. Das Prinzip »Disziplinierung des Einzelnen« blieb erhalten. Neben Obdachlosen wurden auch junge Mädchen durch die Polizei in die Anstalt gebracht – wie der Verwaltungsbericht der Stadt aus den Jahren 1914 bis 1918 Auskunft gibt: »minderjährige Mädchen, die für Männer, namentlich Soldaten eine sittliche und gesundheitliche Gefahr bildeten, auf drei Monate in die Arbeitsanstalt kamen.«
Nach 1933 befand sich hier eine Sammelstelle für Deportationen, die zentrale Verteilerstelle für Zwangsarbeiter, das Ausländergefängnis, nach 1945 ein Sonderheim für soziale Betreuung, nach 1961 und der Einführung der Verordnung zur Verhütung und Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten eine Geschlossene Venerologische Station (die sogenannte »Tripperburg«), später ein Kinder- und Jugendwohnprojekt, heute eine Unterkunft für Geflüchtete und in diesem Jahr eröffnet auf dem Gelände ein Kindergarten.
Mehr als eine GedenktafelWie kann an so eine dichte Geschichte erinnert werden? Dem Stadtrat schwebte erst eine Gedenktafel vor, so der Verantwortliche und Psychiatriekoordinator der Stadt Thomas Seyde. Allerdings war schnell klar, dass die bekannten und vielen noch unbekannten Geschichten mehr einfordern.
Eine Initiativgruppe gründete sich, um über die zukünftige Erinnerungskultur zu beraten. Das Symposium und die Ausstellungen am kommenden Wochenende sollen dabei helfen, Vorstellungen mit den Erfahrungen von anderen Orten für eine eigene lebendige Erinnerungskultur zu verbinden. Und dabei geht es nicht nur um den historischen Ort und die Geschichten, sondern auch um Fragen nach zeitgenössischen Stigmatisierungen, Ausgrenzungen und Disziplinierungsmaßnahmen.
Neben einer Werkstattausstellung zur Geschichte des Ortes und seiner ehemaligen Bewohner ist die Ausstellung »›Auf dem Dienstwege...‹ Dokumente zur Erfassung, Ausgrenzung und Deportation Leipziger Sinti und Roma« zu sehen.
Die Initiatoren sind außerdem immer auf der Suche nach Zeitzeugnissen zur Riebeckstraße 63.