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Politik

Vor der Wahl ist vor der Wahl

Umfragen beeinflussen Wahlen, Wahlen entscheiden Wahlen

  Vor der Wahl ist vor der Wahl | Umfragen beeinflussen Wahlen, Wahlen entscheiden Wahlen

Meinungsumfragen sind wichtiger denn je, sie können Wählerinnen und Wahlen beeinflussen und sie schnüren dem politischen Diskurs, den Parteien, den Politikerinnen und Politikern die Luft ab.

Die Umfragen gebieten es, also macht er das. Der britische Premierminister hat Sex mit einem Schwein und Großbritannien ist per Liveübertragung dabei. 86 Prozent der Bürgerinnen und Bürger waren der Meinung, dass diese einzige Forderung des Geiselnehmers erfüllt werden sollte, um die geliebte Prinzessin Susannah, Duchess von Beaumont, freizukriegen. Wenige Stunden zuvor sah das ganz anders aus. Nur 28 Prozent meinten, der Premier solle der bizarren und ungesetzlichen Forderung nachkommen, die anderen waren dagegen. Doch dann kamen die Bilder des angeblich abgetrennten Fingers der Prinzessin und die Stimmung kippte. Die Beraterin des Premiers drängelte: »Die Empörung der Menschen wird Ihr politisches Ende einläuten. Sie wären erledigt.« Nicht mal für seine Sicherheit oder die seiner Familie könne garantiert werden. Er tut es also. Die erste Folge der britischen TV-Serie »Black Mirror« ist eine beißende Polit-Satire über das Meinungsmacher-Business, das immer größeren Einfluss nimmt auf die Politik.

Erregungswellen

Martin Schulz ist im vergangenen Jahr Opfer wüster Erregungswellen geworden, wie sie Umfragen hervorrufen. Als die SPD Schulz 2017 zum Kanzlerkandidaten und dann zum 100-Prozent-Vorsitzenden krönt, ist die Stimmung in der ausgelaugten Regierungspartei wie ausgewechselt, der Schulz-Hype beginnt. In den Umfragen schnellen die SPD-Werte nach oben, von 20 Prozent auf mehr als 30. Schulz, der bei Parteilinken als konservativer Sozialdemokrat gilt, preist Europa, geißelt Steuerflucht, fordert stabile Renten und mehr Gerechtigkeit. Er ist Medienliebling, man nennt ihn »Sankt Martin«, bewundert seine Leidenschaft, seine Lockerheit. Schulz spielt mit, signiert Poster und T-Shirts mit seinem Konterfei im Stil der »Yes, we can«-Kampagne von Barack Obama, tourt im SPD-Wahlkampf nach amerikanischem Vorbild durch die Republik, mit dem Schulz-Zug. Überall nur Begeisterung, wird notiert. Zwei Monate hält das demoskopische Wunder. Dann laufen zwei Landtagswahlen schlecht für die SPD. Erst im Saarland. Danach rutscht die SPD bei Umfragen auf Bundesebene wieder unter 30 Prozent. Nach der Niederlage in Nordrhein-Westfalen geht es weiter abwärts. Nur manchmal kommen die Sozialdemokraten noch auf 25 Prozent. Als der Bundestagswahlkampf richtig losgeht, ist Schulz schon verbrannt. Immer häufiger muss er sich fragen lassen, was er denn falsch mache. Nichts, sagt Schulz. Aber die Umfragen würden das doch belegen, wird ihm entgegnet. Für die Kanzlerschaft werde es nicht reichen, ob er sehr deprimiert sei. Der Spiegel-Journalist Markus Feldenkirchen, der Schulz während des Wahlkampfs begleitet hatte, erzählt später in einem Interview, wie sehr ihn »die übertriebene Fixierung auf die Meinungsforschung« auf allen Seiten, Politik und Medien, überrascht habe. Schulz habe beispielsweise sein Wahlversprechen, dass es keine Steuersenkungen geben solle, verworfen, nachdem es beim Umfragen-Test durchgefallen war.

Viele machen so Politik, ein »Kreislauf, der insgesamt der Politik nicht guttut«, meint Feldenkirchen. Weil er politische Haltungen unterläuft und »Positionierungen, die vielen Kundinnen und Kunden auf dem Meinungsmarkt gerade nicht schmecken, aussortiert«, sagt der Leipziger Politikwissenschaftler und Publizist Robert Feustel. Eine Folge der Ökonomisierung der Politik, die, so Feustel, politische Ideengeber und Gestalter zu Verkäufern und mündige Bürger zu Kunden degradiert.

 Glaubwürdigkeit

Sechsmal in 2018, dreimal im Jahr 2017 wurde die Sonntagsfrage zu Landtagswahlen in Sachsen gestellt. Lange bevor Wahlprogramme geschrieben und Kandidaten benannt wurden, lange vor der Wahl. Auf das Ergebnis haben sich offenbar schon alle eingestellt. Die SPD visiert wieder eine Koalition mit der CDU an, wie SPD-Generalsekretär Henning Homann während einer Veranstaltung des kreuzer erklärte: »aus Verantwortung«. Weil die Zahlen befürchten lassen, dass es für die SPD – mit ihren traurigen 10 Prozent – und die CDU nicht zu einer Mehrheit reichen wird, signalisierte Valentin Lippmann von den Grünen, dass seine Partei der großen Koalition beispringen würde. Für viele Stammwählerinnen und Stammwähler dürfte das ein harter Schlag werden, wenn es so weit kommt. Mehr als andere Parteien vielleicht haben die Grünen im Osten ihre Wurzeln in der Bürgerrechtsbewegung. Als Verteidiger von Grund- und Bürgerrechten, parlamentarische Kontrolleure bei diversen Skandalen in der Vergangenheit und als Gegengewicht in ökologischen Fragen spielen sie eine wichtige Rolle in der Opposition. Eine Koalition mit der sächsischen CDU würde die Grünen wohl einiges an Glaubwürdigkeit kosten und sie dem Schicksal der SPD näherbringen. Die Parteispitze hat den Sozialdemokraten einen gründlichen Erneuerungsprozess versprochen: ein Zurück zum traditionellen Profil, mehr soziale Gerechtigkeit, mehr Umverteilung. Im Willy-Brandt-Haus in Berlin wurde einstimmig ein Konzept für eine Reform des Sozialstaats beschlossen. »Wir zeigen, dass es fundamentale Unterschiede zwischen uns und der Union gibt«, erklärte der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion Carsten Schneider im Gespräch mit der Welt. In Sachsen fehlt dazu der Mut, einen Perspektivwechsel wird es so schnell nicht geben, einen kämpferischen Wahlkampf auch nicht. Damit die AfD nicht zum Zug kommt, will man Mehrheitsbeschaffer und Juniorpartner der CDU bleiben. Vor allem bei der Basis, bei denjenigen, die eingetreten sind, um gegen die Große Koalition im Bund zu stimmen, dürfte das für Enttäuschung sorgen. »Von einer linken Mehrheit sind wir meilenweit entfernt«, hatte der sächsische Parteivorsitzende Martin Dulig schon beim Parteitag im Oktober gesagt. Auch Holger Mann, neuer Chef der Leipziger SPD, klebt an den Umfragezahlen. Er twittert: »Seit 2014 hatte #r2g nie mehr als 37% in #Wahl -#Umfragen, während #CDU & #AfD nie weniger als 51% hatten.« Die Frage, warum das so ist, lässt sich leicht beantworten: Die SPD in Sachsen hat sich nie ernsthaft um eine linke Mehrheit bemüht und den Kampf gegen die Bedeutungslosigkeit noch nicht aufgenommen. »Man muss doch auch um Mehrheiten kämpfen«, sagt Sarah Buddeberg, Parlamentarische Geschäftsführerin der Linken im sächsischen Landtag bei der Diskussionsveranstaltung des kreuzer. Es ist eine demokratische Selbstverständlichkeit, die sie zwischen ihren Parlamentskollegen Homann und Lippmann an diesem Abend wagemutig und draufgängerisch klingen lässt.

Macht

Die Aussichten sind dennoch trübe in Sachsen. Der Erfolg der AfD gründet auf dem Scheitern ihrer Gegner. Hannah Arendt erklärt in ihrem Essay »Macht und Gewalt«, das Gedeihen der Menschen hänge vom Vermögen ab, gemeinsam zu handeln. »Macht entspricht der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln.« Macht, wie Arendt sie hier versteht, ist gleichbedeutend mit der Freiheit, mit anderen zusammen eine gemeinsame Welt zu schaffen. Wer dazu nicht den Mut hat, sollte nicht in die Politik gehen. Denn gegenwärtige Erfolge autoritärer Bewegungen verdanken sich teilweise dem Versagen dieser Macht. Der Unwille oder die Unfähigkeit, echte Veränderung zu gestalten, versteckt sich hinter Arithmetik, hinter Prognosen und Hochrechnungen. Es scheint also notwendig, an ein demokratisches Grundprinzip zu erinnern: Die Wahlen werden durch Wahlen entschieden.


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