Der Bohemist Matteo Colombi und die Übersetzerin Martina Lisa über Leipzig, die Schriftstellerin Milena Jesenská und die Autorin Jana Černá – Jesenskás Tochter. Wir treffen uns in Colombis Dachgeschosswohnung. Es läuft ein Stück von Max Brod, Colombi reicht italienischen Espresso und Zitronenkekse.
kreuzer: Herr Colombi, was macht eigentlich ein Bohemist?
Matteo Colombi: Ein Bohemist ist ein Literaturforscher, der sich mit der Literatur
aus Böhmen beschäftigt, aber eigentlich nicht nur aus Böhmen, sondern aus allen tschechischen Gebieten, also neben Böhmen und Mähren auch Tschechisch-
Schlesien mit dem Hauptgebiet Ostrau. Die Hälfte der Stadt Ostrau liegt aber eigentlich im mährischen Gebiet – man merkt gleich, dass es nicht so einfach ist mit der Geografie der tschechischen Regionen, und auch die Literaturgeschichte ist vielfältig, komplex und spannend. In erster Linie lesen und erforschen Bohemistinnen die tschechische Literatur. Die tschechischen Gebiete waren aber jahrhundertelang sowohl tschechisch- als auch deutschsprachig, so dass Bohemisten zwar Slawisten sind, aber meistens auch viel mit der
deutsch-böhmischen, also der deutsch-mährischen und deutsch-tschechisch-
schlesischen, Literatur zu tun haben. Ich berücksichtige beide Richtungen,
sowohl in meiner Forschung als auch in meiner Lehre.
kreuzer: Frau Lisa, warum sind Sie nach Leipzig gekommen?
Martina Lisa: Ich bin Anfang der Nullerjahre zum Studium nach Leipzig gekommen
und bin – wie so viele – hängengeblieben. Eigentlich wollte ich ursprünglich nach Berlin. Ich habe dann aber wunderbare Leute aus Leipzig kennengelernt und durch
sie auch die Stadt, und das hat mich überzeugt. Und es war zweifellos eine gute
Entscheidung, auch wenn sich ab und an bei mir meine Berlin-Sehnsüchte melden, aber in Leipzig bin ich zu Hause. Und ich bin sehr froh, die Zeit vor dem großen
Leipzig-Hype hier erlebt zu haben. Auch wenn alles langsam zu romantischen
und romantisierten Erinnerungen mutiert, die bei langen Rotweinabenden zwischen Weingläsern und Aschenbechern ausgebreitet werden.
kreuzer: Nachdem Sie erfahren hatten, dass Tschechien Gastland auf der
Buchmesse 2019 sein würde, welche Überlegungen gingen da los, was wollten
Sie machen?
Lisa: Die Vorbereitungen haben vor circa zwei Jahren angefangen, was relativ knapp war. Für die Übersetzerinnen ist es toll gewesen, da tschechische Literatur jetzt in den Fokus gerückt ist. Das ist sonst nichts, worum sich die Verlage reißen. Die Frage ist aber, was nach der Messe davon bleibt, denn zum größten Teil werden die Übersetzungen, die jetzt erscheinen, von Tschechien kofinanziert. Doch die Möglichkeit, Förderungen zu beantragen, hat es auch schon vorher gegeben, es wurde aber nicht so genutzt. Normalerweise erschienen im Jahr vielleicht fünf Übersetzungen aus dem Tschechischen. Die großen Verlage haben ihre Stammautoren, und sie planen eben auch anders. Und die kleineren Verlage
würden sich das sonst kaum leisten können.
kreuzer: Wie kam es denn, dass Sie beide sich so sehr für die tschechische Literatur begeistern, vor allem für Milena Jesenská und Jana Černá?
Colombi: Ich war Student an der Universität in Bologna und hatte einen guten Freund, der ein großer Kafka-Fan war. Ich hatte Kafka auf dem Gymnasium gelesen, fand ihn aber sehr deprimierend. Dieser Freund hat mich dafür begeistert und ich besuchte einen Kurs an der Uni über Kafka. Und dieser Freund hat von Milena Jesenská erzählt und über das Buch »Milena – Kafkas Freundin« von Margarete
Buber-Neumann. Sie war im KZ in Ravensbrück, wo sie Jesenská kennenlernte. Sie war auch im Gulag gewesen und wollte ein Buch schreiben, in dem sie beides vergleicht, sie hat dann aber zuerst die Geschichte von Milena geschrieben, weil sie von dieser Frau so beeindruckt war. Ich habe ihre Milena-Biografie dann gelesen und war ebenfalls sehr beeindruckt. Weil Milena für mich so anders als Kafka ist – sie sind zwar beide Schöngeister und Nervenkünstlerinnen, aber Kafka ist eben eher der Typ, der nur beobachtet, sich in der Gesellschaft nicht engagiert.
Jesenská war das Gegenteil. Ich fand das sehr faszinierend. Das war für mich meine Coming-of-Age-Geschichte. Ich hatte zwei Modelle, ich habe gedacht, ich bin als Mensch zwischen den beiden, aber Milena schien und scheint mir das
gesündere Vorbild zu sein. Ich hab Jesenskás Feuilletons und Reportagen
gelesen und fand sie supertoll – die über die Wiener und Prager Caféhauskultur. Und dann später ihre Texte über die Sudetenkriege, sehr spannend, total klug, scharfsinnig, engagiert, trotzdem unparteiisch in dem Sinne, dass sie wirklich bereit ist, Kritik an allem und jedem zu üben, aber eben auch sehr menschliche Kritik, in der sie Verständnis zeigt für die Schwächen der Menschen. Ich bin dann
vor zwanzig Jahren als Erasmus-Student nach Deutschland gekommen und Milena tauchte immer wieder auf. Ich hatte schon als Student in Italien festgestellt, dass
man da auch eine kleine Ausgabe von den Werken ihrer Tochter, Jana Černá, lesen kann, die man in Deutschland nicht hat.
Lisa: Aber bald haben wird!
Colombi: Stimmt, dass ist Martinas Teil … Es gab also dieses tschechische Büchlein, das man in den neunziger Jahren rausgegeben hat, von Milenas Tochter,
die eine Protagonistin des tschechischen Undergrounds der fünfziger Jahre war. Černá schreibt darin erotische Gedichte. Die italienische Ausgabe ihrer Gedichte
trägt den Titel »In culo oggi no«, »In den Arsch heute nicht«: Und es ist der erste Vers eines Gedichtes von ihr, »In den Arsch heute nicht / denn es tut mir weh«. Also, sie hat über Körper und Sex geschrieben, auf eine Art und Weise in den fünfziger Jahren, die auch im Westen sehr gewagt gewesen wäre. So was kennt man dann
eher aus den neunziger Jahren, man brauchte dafür die zweite feministische Welle und ihre Nachfolge, aber Jana nimmt es aus dem französischen Surrealismus. Doch der männlich dominierte Surrealismus schreibt auch nicht so über Frauen.
Sie radikalisiert es und schreibt aus weiblicher Perspektive.
kreuzer: Waren die beiden Frauen auch für Sie Vorbilder, Frau Lisa?
Lisa: Ich kannte Milena schon ziemlich lange, seit einer Jugendphase, in der man nach Heldinnen sucht, vielleicht sogar nach so etwas wie moralischen Vorbildern. Nach Frauen muss in diesem Kontext viel mehr gesucht werden, während man mit männlichen Heldenangeboten und Autoren geradezu überschwemmt wird. Ich habe mich unter anderem auch mit dem Zweiten Weltkrieg und der Zeit des
Protektorats beschäftigt und Milenas Bücher und Bücher über sie gelesen – wie sie sich als öffentliche Person, als linke Journalistin unerschrocken engagiert hat. Wie sie Leute, die sich nach Prag gerettet hatten, unterstützt hat und ihnen später bei
der Flucht half, als es auch dort zu gefährlich geworden war. Sie selbst hat es dann
nicht geschafft, sich zu retten, aber sie wollte ja auch gar nicht abhauen – auf jeden
Fall hat mich dieses Schicksal sehr berührt. Später hab ich dann wieder mehr von
ihr gelesen und bin durch Matteo auch auf ihre Tochter Jana gestoßen. Es war nicht
viel zu finden von Jana, sie durfte zu Lebzeiten in der Tschechoslowakei kaum publizieren. Sie wurde in gewisser Weise doppelt stigmatisiert, durch ihre Herkunft, denn auch Jesenská war wegen ihres Bruchs mit der kommunistischen Partei und der Sowjetunion in der Tschechoslowakei vor 1989 eine Persona non grata, und dann natürlich durch ihr eigenes Auftreten – als eine kritische, unangepasste Person, und das noch als Frau. In den neunziger Jahren erschienen dann ein paar Texte. Vor einigen Jahren hat eine Kollegin aus Prag, die polnische Bohemistin Anna Militz, das gesamte Werk von Černá publiziert. Als Übersetzerin tendiere ich dazu, wenn mich Texte berühren, zu überlegen, wie ich sie übersetzen kann, weil ich sie auch anderen Leuten zeigen will.
kreuzer: Herr Colombi, Sie haben ein Theaterstück über Jana und Milena
geschrieben. Worum ging es darin?
Colombi: Ich habe eine szenische Lesung über Jana und Milena geschrieben, die 2007 auf einem Theaterfestival in Rimini aufgeführt wurde. Mit Schauspielern, Musikern und einer Psychoanalytikerin. Neun Jahre später habe ich eine Konferenz in Wien mit einer Wiener Bohemistin organisiert, Gertraude Zand. Es war die erste internationale Konferenz über Černá. Martina war auch dabei, und im Rahmen dieser Konferenz habe ich den Text als Theaterstück umgearbeitet. Ich habe ihn auf Deutsch umgeschrieben und das dann aufgeführt, Martina hat einige Texte von Černá übersetzt und ist auch in dem Stück aufgetreten. Es ist sogenanntes »teatro
di narrazione«, Erzähltheater, das ist sehr populär in Italien. Auf Basis einer Recherche schreibt man einen Theatertext, der mehr oder weniger eine Erzählung für das Publikum ist, und regiert sich selbst, es ist also eine One-Person-Show. Das Stück dauert zwei Stunden, eine über Milenas Leben, eine über Jana, mit einer Überraschung in der Mitte, die mit einem Kochbuch zu tun hat, das Milena geschrieben hat. Wir haben das nur einmal in Wien aufgeführt, im »Nachtasyl«, einer Kneipe der tschechischen Dissidenten der siebziger Jahre. Das war sehr gut, aber das Stück war ein bisschen lang für die Leute von der Konferenz. Ich will es kürzen und umarbeiten und hier in Leipzig neu aufführen. Aber es ist schwierig, in Zeiten des Neoliberalismus als Theatermensch zu arbeiten und gleichzeitig an der Uni zu sein, wo man ständig nur Drittmittelanträge schreiben muss.
kreuzer: Frau Lisa, Sie übersetzen also nun die Texte Ihrer Heldin Černá?
Lisa: Mittlerweile habe ich die mündliche Zusage eines kleinen Verlags für eine
Auswahl von Janas Texten. Es ist bewundernswert, wie Jana geschrieben hat
und ihren Weg gegangen ist, einen sehr radikalen, der nicht einfach war, außerhalb jeglichen Konformismus. Sie hätte sich sicher auch für ein leichteres Leben entscheiden können. Gleichzeitig war sie bestimmt auch eine wahnsinnig anstrengende Person im persönlichen Umgang, weil sie eben so radikal war. Das zeigt sich auch schon an dem, sagen wir, nicht ganz einfachen Umgang mit ihren fünf Kindern, denn sie war trotz inniger Liebe zu ihnen nicht wirklich imstande, sich um sie zu kümmern. Milena war da ganz anders, sie hatte zwar auch ihre Wutausbrüche und Stimmungsschwankungen, aber gleichzeitig war sie immer eine öffentliche Person, der die gesellschaftliche Anbindung sehr wichtig war. Die hat Jana komplett verweigert. Aber es waren eben auch andere Zeiten, in denen die beiden gelebt haben.
kreuzer: Milena scheint in allen Biografien eine andere zu sein, wie kommt das?
Colombi: Jana hat die Biografie über ihre Mutter in den sechziger Jahren geschrieben, als man nach dem Stalinismus wieder über Milena sprechen durfte. Milena war zwar Kommunistin, anscheinend kein Parteimitglied, aber sie schrieb kommunistische Texte, hat dann nach den Moskauer Prozessen den Kommunismus kritisiert und sich als Journalistin von seiner Presse distanziert. In den fünfziger Jahren durfte man darum über sie nicht sprechen. Janas Biografie der Mutter gibt es übrigens auch auf Deutsch, das Einzige, was momentan von Černá vorliegt. Es gibt aber eben auch die Biografie von Milenas Freundin Buber-Neumann, die sehr bewundernd ist, fast ein Lobgesang. Und dann gibt es noch eine sehr gute von einer kanadischen Journalistin, Mary Hockaday. Dazu noch die prägnante Biografie von Alena Wagnerová, einer tschechischen Autorin, die schon lange in Deutschland lebt. Es ist in der Tat spannend, all diese Biografien zu vergleichen. Zum Beispiel hat man
bei Jana ein bisschen Kritik an der Mutter. Jana sympathisiert mit Kafka, während Margarete Buber-Neumann sich mit Milena solidarisiert. Ich habe einen Kurs an der Uni Berlin über Biografien gemacht und wir haben die vier verglichen. Wir haben
die polnische, in Prag lebende Bohemistin Anna Militz eingeladen, die über ihre Biografie über Jana, die erste überhaupt, gesprochen hat. Sie war ungefähr 25 Jahre alt, als sie diese wunderbare Biografie geschrieben hat. Es ist auffällig, dass so viele junge Menschen in Begeisterung über Milena und Jana geraten.
Lisa: Ja, weil es etwas Revoltierendes hat und immer noch aktuell ist. Wie Jana
sich zum Beispiel mit Körper und Körperlichkeit auseinandersetzt, auf einer
so persönlichen Ebene. Milena spricht gesellschaftlich-journalistisch über solche Themen, im großen Kontext. Jana macht das ganz anders, sie bleibt bei sich, damit können sich sicher viele identifizieren.
Colombi: Das ist auch Janas Kritikpunkt in der Biografie. Dass Milena immer
auch eine öffentliche Person sein wollte, weswegen sie sich immer ethische Fragen
in Bezug auf kollektives Verhalten stellt. Jana tut das nicht und ist dann radikaler,
auch darin, wie sie die Abgründe eines Individuums zeigt. Aber man muss bedenken, dass dabei das Kollektiv oder die Öffentlichkeit für die beiden etwas ganz anderes war. Es ist eine Sache, in der ersten tschechoslowakischen Republik zu leben unter Masaryk und zu denken, dass wir in einer Demokratie sind – dann hat man auch Lust, sich zu engagieren. Eine andere Sache ist es, wenn dein Kollektiv das stalinistische ist, ein bisschen auch wie eine Kulisse, und du weißt, dass von oben nach unten herumdirigiert wird. Dann hast du auch keine Lust, dich einzubringen, sondern, wenn du den Mut hast, willst du es herausfordern, provozieren, entmystifizieren.
Lisa: Es hat auch etwas Tragisches, weil Jana sich mit ihrer Mutter nie richtig
auseinandersetzen konnte. Jana war ungefähr elf, als Milena nach Dresden ins Gestapo-Gefängnis kam und dann nach Ravensbrück abtransportiert wurde.
Ich kann mir vorstellen, dass Jana diesen Mystifizierungen ihrer Mutter, die danach um sich griffen, eine eigene Version entgegensetzen musste, um sich abzugrenzen, obwohl sie sie selbst zu wenig erlebt hat. Und so bringt sie in ihrer
Milena-Biografie ein etwas anderes Milena-Porträt, das sich allerdings aus den
emotionalen Erinnerungen eines allein gelassenen Kindes speist. Für Jana blieb
ihre Mutter in vielerlei Hinsicht eine Figur aus den Erzählungen anderer.