Ministerpräsident Michael Kretschmer hat am Mittwoch den Sächsischen Verdienstorden verliehen. Auch Rosemarie Haase aus Leipzig wurde geehrt. Im Februar 2017 führte der kreuzer mit ihr das Interview des Monats, das wir aus aktuellem Anlass noch einmal veröffentlichen.
Am Mittwoch hat Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) an 17 Bürgerinnen und Bürger den Sächsischen Verdienstorden vergeben. Unter ihnen ist auch Rosi Haase aus Leipzig. In der Begründung zur Vergabe ist nachzulesen, dass damit ihrem Engagement »zur Unterstützung psychisch erkrankter Menschen« und ihr Kampf »gegen Vorurteile gegenüber psychischen Erkrankungen« Respekt gezollt wird. Die Staatsregierung ist sich sicher: »Mit ihrem Wirken erlangt sie ein besseres Verständnis und eine höhere Akzeptanz für Krankheiten der Seele in der Gesellschaft und bei den Betroffenen selbst.«
Bereits im November 2016 kam Rosi Haase zum Interview in die kreuzer-Redaktion. Damals ging es um den Künstler Klaus Hähner-Springmühl (siehe kreuzer 11/2016). Er wohnte lange Zeit im Verein Durchblick in der Mainzer Straße, den sie mitbegründete. Schnell war klar, dass Haase sehr viele Geschichten über das gestrige und heutige Leipzig erzählen kann. Da ihr der Kaffee hier sehr gut schmeckte, kam sie ein paar Monate später gerne noch einmal vorbei.
kreuzer: Wie kamen Sie nach Leipzig?
ROSI HAASE: Na, wie viele aus der Provinz. Ich bin 1951 in Forst an der polnischen Grenze geboren und in einer Umgebung aufgewachsen, die fast nur aus Ruinen bestand. Ich wollte Kunst studieren und hatte mir die Kunsthochschule in Berlin angeguckt, aber die Stadt war mir zu groß und zu weitläufig. Ich bewarb mich in Leipzig und hatte einen Mappentermin. Als ich hier aus dem Bahnhof kam, dachte ich: »Ach, ist das eine schöne Stadt!« Dabei war Leipzig damals recht grau. Aber die Sonne schien und auf dem Sachsenplatz sangen auf einer Bühne die DDR- Schlagersuperstars Frank Schöbel und Chris Doerk, und dann war da diese wunderschöne Schule mit dem Innenhof. Ich wurde zur ein- wöchigen Aufnahmeprüfung eingeladen und schließlich angenommen.
kreuzer: Was machte die HGB in den siebziger Jahren aus?
HAASE: Die Studienplätze waren schwer begehrt, auf einen Platz kamen 200 Bewerber. In allen fünf Studienjahren gab es insgesamt nur 150 Studenten und sehr viele davon aus dem Ausland. Man musste zwar zu allen Vorlesungen pünktlich sein und es gab auch sinnlose Fächer wie Politische Ökonomie und Sport – aber in den Künstlerischen Werkstätten konnte man viel lernen und sich ausprobieren und jeder Student bekam ein Materialkontingent. In der Bibliothek standen Westpublikationen, das war etwas Besonderes. An der HGB sah ich auch zum ersten Mal einen verrückten Menschen. Das war der Heizer: ein großer, stummer Mensch unten im Keller. Manchmal kam er wie ein Golem in die Klassen zum Aktzeichnen und rief »Ficken, ficken«.
kreuzer: Zu Beginn der siebziger Jahre kam das Label »Leipziger Schule« auf. Hat man sich als Studierender davon beeinflussen lassen oder wollte man seinen eigenen Stil finden?
HAASE: Zuerst einmal war ich Anfang 20 und verliebt und habe mich eher für andere Sachen interessiert. Aber es spielte schon eine Rolle. Heisig war in meiner Klasse ein Phänomen, er hatte die Hochschule verlassen und wir wollten ihn wiederhaben. Tübke war dann im 2. Studienjahr unser Lehrer, ein Exzentriker. Er hat uns erzählt, dass er in der Psychiatrie stricken gelernt habe. Das fand ich beeindruckend. (Die Maler Bernhard Heisig und Werner Tübke waren Professoren an der HGB und gehören zu den wichtigsten Repräsentanten der Kunst in der DDR, d. Red.)
kreuzer: Was folgte nach dem Studium?
HAASE: Es gab diesen vorgezeichneten Weg nach dem Diplom: ein Antrag auf die Mitgliedschaft im Verband Bildender Künstler. Dann war es üblich, dass man für die ersten drei Jahre nach dem Studium entweder mit staatlichen Einrichtungen oder meistens mit Betrieben Förderverträge schloss, Auftragskunst machte und dafür bezahlt wurde. Von 1977 bis 1980 lebten wir in Zwickau, denn ich hatte einen Fördervertrag mit dem VEB Sachsenring, dem Betrieb, der die Trabis hergestellt hat.
kreuzer: Wie ging es weiter?
HAASE: Nach der Rückkehr aus Zwickau lebten die Kontakte zu den ehemaligen Kommilitonen – wie Ingo Regel – wieder auf. Wir trafen uns abends bei Frau Krause in Connewitz, die wandelte sich gerade von einer Rentnergaststätte in eine Studentengaststätte. Man fing an, über Ausstellungsmöglichkeiten nachzudenken. In den achtziger Jahren gab es die Galerie Süd, die Galerie am Sachsenplatz (ehemals im Fregehaus, gegenüber dem heutigen Bildermuseum, d. Red.) sowie Wort und Werk (Galerie im Keller der Evangelischen Verlagsbuchhandlung am Markt, heute Spizz, d. Red.) und die Nato mit ihrem Hausmeister Götz Lehmann begann mit ihrem Programm. Das Lindenau-Museum in Altenburg mit der Direktorin Jutta Penndorf lud einige Leipziger Künstler zu Ausstellungen ein. Aber es gab nicht viele Ausstellungsmöglichkeiten; die Alternativen waren in Privatwohnungen in Berlin.
kreuzer: Führte der Zustand zu Hoffnungslosigkeit?
HAASE: Ich wollte nicht hoffnungslos am Biertisch sitzen und suchte mir eine Arbeit. Ich begann im Zentralhaus für Kulturarbeit im Bereich Angewandte Kunst als wissenschaftliche Mitarbeiterin. In jedem größeren Betrieb und in jeder staatlichen Einrichtung sollten sich die Mitarbeiter künstlerisch betätigen, vom Fleischkombinat bis zur Volkspolizei. Meine Aufgabe war es, mich um die einzelnen Zirkel zu kümmern und Ausstellungen zu organisieren. Die Verbandskünstler hielten sich immer für etwas Besseres. Aber in diesen Laien-Zirkeln fand wirkliche Demokratie statt, weil der Betriebsdirektor oft mit seinem Hilfsarbeiter zusammensaß. Sie sind sich auf Augenhöhe begegnet.
kreuzer: Half das Zentralhaus auch den Verbandskünstlern?
HAASE: Ja, viele haben als Zirkelleiter gearbeitet. Oder einmal kam Günther Huniat zu mir und sagte: »Wir suchen Ausstellungsräume. Wir wollen eine alternative Ausstellung machen.« Da habe ich gesagt: »Geht doch einfach zum Messeamt. Du bist im Verband und kannst Messeräume mieten. Das geht.« Ich wusste das, weil wir dort für das bildnerische Volksschaffen eine Ausstellung vorbereitet hatten. So fand im Messehaus am Markt der Herbstsalon statt (siehe dazu S. 98, d. Red.). Die Möglichkeiten, die es in der DDR gab und es auch heute noch gibt, werden oft nicht wahrgenommen, aber man kann immer was machen.
kreuzer: Was konnte man im Zentralhaus machen?
HAASE: Ich organisierte eine Umweltwerkstatt in Wolfen-Nord. Dort gab es nur Plattenbauten, kein Kino, nichts. In Gemeinschaft mit Architekten, Soziologen, einem Mitglied im Nationalrat der Nationalen Front und der Kulturstadträtin erarbeiteten wir ein Projekt. Ich merkte allerdings zum ersten Mal, was das für Nerven kostet. Die Stasi konfiszierte zum Beispiel die Einladungskarten, weil sie dachte, dass wir Die Grünen in Wolfen-Nord gründen wollen – in Wolfen-Nord! Wir hatten einen grünen Spatz als Logo und das schien der Stasi ein Beweis dafür zu sein, dass wir den politischen Umsturz planten. Dabei wollten wir einfach nur mit Kindern ein Spielhaus bauen und gemeinsam mit den Anwohnern Wolfen-Nord ein kleines Stückchen schöner machen. Danach entschied ich für mich, dass ich nicht mehr in einer staatlichen Institution arbeiten kann, da gehe ich kaputt.
kreuzer: Existierten Alternativen?
HAASE: Frieder Heinze, Gudrun Petersdorff und ich wollten die Produzentengalerie Lassallestraße 19 gründen. Wir hatten eine Konzeption für die leeren Räume geschrieben und stellten sie dem Verband vor. Die Künstler sollten Verantwortung für ihre Ausstellungen übernehmen. Aber der Verband hat das Konzept abgelehnt. Ab 1984 habe ich dann in der Psychiatrie gearbeitet.
kreuzer: Ging das so einfach?
HAASE: Ich habe mich erst gesträubt. Ein Kumpel einer Kollegin im Zentralhaus hatte seine Ausreise gekriegt und suchte händeringend einen Nachfolger in Dösen (Bezirkskrankenhaus für Psychiatrie Leipzig-Dösen, d. Red.). Ich sagte: »Ach nee, das will ich nicht. Psychiatrie, die Verrückten.« Jedenfalls hat er mich bekniet und wir haben uns geeinigt, dass ich es für drei Monate probiere.
kreuzer: Wie war der erste Eindruck von der Psychiatrie?
HAASE: Die Station war schmutzig und runtergekommen und als Kontrast fielen mir die weißen Kittel vom Personal auf. Das war ein ganz starkes Bild; diese Gitter, dieser Schmutz und die Menschen, die sich freuten, dass jemand von draußen kommt. Es war eine Forensische Station, da sind auch manche hingekommen, die einfach nur aufmüpfig waren.
kreuzer: Wie waren die ersten Treffen?
HAASE: Ich wurde von den Patienten sehr freundlich empfangen und auch von den Ärzten, weil die froh waren, dass da überhaupt noch jemand kam. Ich war von der Kreativität der Patienten unglaublich überrascht, von der Lebendigkeit, von der Produktivität. Das hat mich einfach begeistert.
kreuzer: Gab es auch außerhalb einen Zirkel?
HAASE: Wir organisierten einen Zeichenzirkel für die, die nicht mehr auf der Station waren, im Klubhaus »Arthur Hoffmann« (das heutige Haus Steinstraße, d. Red.) bei Brigitte Schreier-Endler in der Steinstraße.
kreuzer: Wurde weiter nach Ausstellungsorten gesucht?
HAASE: Ich war damals zwei Tage in der Woche bei den Zirkeln und ansonsten war ich zu Hause und habe gekocht und oft kam Besuch. Sowohl Götz Lehmann als auch Judy Lybke hatten immer Hunger. Auf Judy wurde von den Verbandskünstlern herabgeguckt. Ich fand seine Lebendigkeit gut und sagte zu den anderen Künstlern: »Mensch, der macht in seiner Wohnung Ausstellungen, da könnt ihr doch mal ausstellen.« Als Antwort kam: »Wir stellen doch hier nicht bei jedem Assi aus. Da könnte ja jeder kommen.«
kreuzer: Was sich ändern sollte …
HAASE: Eines Tages kam Judy zu Akos Novaky, mit dem ich damals noch verheiratet war. Akos war auf der Suche nach einem Atelierraum. Judy hatte das mitbekommen und verkündete stolz: »Ich habe was gefunden: in der Bornaischen Straße, im Hinterhaus. Akos, das wäre ein ganz tolles Atelier für dich!« Sie zogen los und schauten es sich an und Akos sagte: »Daraus machen wir jetzt eine Galerie.«
kreuzer: Die Galerie Eigen + Art in der damaligen Fritz-Austel-Straße?
HAASE: Ja, dann renovierten die Psychiatriebetroffenen mit den nicht etablierten Künstlern, Judy und der Freundeskreis die Räume. Die waren durch die vormalige Firma dreckig und rußig und wir haben alle gemeinsam angepackt. Mein Part war es, mit allen möglichen Leuten zu sprechen: »Wir wollen eine Galerie gründen. Ähnlich wie mit unserem Plan zur Lassallestraße 19, aber wir machen das jetzt woanders und ohne den Verband. Würdest du was spenden?« Wir hatten für die Galerie ein genossenschaftliches Konzept entwickelt.
kreuzer: Die Künstler sollten Verantwortung übernehmen?
HAASE: Ja, und wir wollten den Leuten, die keine staatliche Förderung erhielten, Stipendien geben. Wir wollten demokratisch, als Gründer, als Produzenten, entscheiden, wer eine Förderung kriegt. Aber wir benötigten ein bisschen Geld. Also haben wir uns gedacht: Machen wir eine Soli-Aktion bei Frau Krause.
kreuzer: Was können wir uns darunter vorstellen?
HAASE: Die Künstler spendeten Bilder und dann gab es eine Versteigerung. Freunde und Bekannte wurden dazu eingeladen. Wir nahmen 3.000 DDR-Mark ein.
kreuzer: Ganz schön viel!
HAASE: Na klar! Das war ein Jahreseinkommen. Im Anschluss produzierten wir eine Siebdruck-Reihe, die wir gegen Spenden abgaben. Das war vielleicht auch der Anfang vom Ende.
kreuzer: Bei Geld hört die Freundschaft auf?
HAASE: Na, Geld war nicht der Hauptgrund, aber Judy fing an, sein eigenes Ding aus der Galerie zu machen. Ich war damals hochschwanger und die Leute kamen zu mir, weil ich ja vorher rumgerannt war und um Unterstützung gebeten hatte. Judy, der ursprünglich als Aufsicht angestellt war, würde sich auf einmal aufspielen. Wir hatten solidarische Konditionen ausgehandelt, so dass jeder Künstler freiwillig was für die Galerie gibt, wenn was verkauft wird, weil es ja im gemeinsamen Interesse lag. Aber Judy wollte seine 30 Prozent. Die anderen waren sauer und sagten, wir könnten ihm ja einfach die Bude ausräumen, und dann solle er mal sehen, wie er alleine klarkommt, aber ich bekam gerade ein Kind und sagte: Darüber würde sich die Stasi nur freuen. Er hatte einfach Blut geleckt am Geschäft. Ich sagte: »Hör mal zu, du bist das größte Arschloch und ab heute kenne ich dich nicht mehr.« Und das habe ich lange durchgehalten.
kreuzer: Wie kam es dann zum Durchblick-Verein?
HAASE: Durch die Zirkeltätigkeit ab 1985 in der Steinstraße bot uns Brigitte Schreier-Endler einen Raum und ein kleines Budget an. Wir hatten Zeit, darüber zu sprechen, was wir machen würden, wenn wir könnten, wie wir wollen. Dass man unsere Kunst in der Psychiatrie zwar nicht schätzt, aber man könne damit in die Öffentlichkeit gehen und vielleicht etwas nebenbei verdienen. So hatten wir schon eine komplette Programmatik, als die Wende kam. Wir entschlossen uns relativ zeitig, am 30. Mai 1990, den Durchblick e. V. als Psychiatriebetroffeneninitiative zu gründen.
kreuzer: Wie ging es dann weiter?
HAASE: Ich arbeitete von 1990 bis 2014 im Durchblick. Die Kunst war immer eine wesentliche Säule des Vereins, wie die kritische Begleitung der Psychiatrie und die Durchmischung von Leuten, die nicht in der Psychiatrie waren, mit Leuten, die eine Psychiatrieerfahrung haben. Ich denke, wir haben über die Jahre viel dazu beigetragen, dass Leipzig immer noch als ein Ort der Psychiatriereformen gilt. Aber wir erleben gerade in vielen Bereichen der Gesellschaft eine Rückentwicklung. Jetzt kommen sie mit Hirnströmen an und sagen, dass psychische Störungen oder Krankheiten schon in den Genen angelegt sind. Das spielt bestimmt auch eine Rolle, aber gleichzeitig wird das Soziale völlig ausgeblendet, und das ist ein großer Irrtum.
kreuzer: Hat die Kunst ihre Spuren im Durchblick-Verein hinterlassen?
HAASE: Ja, es haben sich über die Jahre unglaublich viele Bilder, Filme, Fotos und Texte angesammelt. Teilweise wurden und werden sie im Durchblick und im Sächsischen Psychiatriemuseum ausgestellt. Ich wünsche mir, dass aus diesem großen Sammelsurium eine richtige, geordnete und zugängliche Sammlung entsteht.
kreuzer: Soll sie im Vereinshaus in der Mainzer Straße entstehen?
HAASE: Dort oder woanders. Ein Traum, den ich unbedingt noch verwirklichen will: dass ich eine Gemeinschaft von 10 bis 15 Leuten in so einer Art Künstlerhaus versammle. Im Künstlerhaus könnte man zum Beispiel die Sammlung unterbringen und alternative Lebensräume zur Psychiatrie schaffen. Ein Ort der Möglichkeiten.
kreuzer: Es existieren einige Orte, die krank machen.
HAASE: Das Jobcenter zum Beispiel. Das ist ja fast restriktiver, als es die Stasi war. Deswegen bin ich eine große Befürworterin des bedingungslosen Grundeinkommens, weil, was noch überhaupt keiner ausgerechnet hat: die psychischen Schäden, die Depressionen, die entstehen, wenn man beim Jobcenter antanzen muss. Oder wenn man gezwungen wird, im Call-Center zu arbeiten, also dagegen war die DDR der reinste Freiheitsstaat. Ich kenne einige Leute, die dadurch krank wurden.
kreuzer: Die Kunst kann helfen?
HAASE: Manchmal. Sie kann immer noch was dagegenhalten. Es kommt für mich jeden Tag darauf an, zu entscheiden: Wie weit passe ich mich an und wo leiste ich Widerstand? In der DDR hatte die Kunst einen hohen Stellenwert und galt als potenziell gefährlich. Sie hatte subversives Potenzial, und das hat unglaublich Spaß gemacht. Die Kunst war, ist und kann eine Klammer zwischen unterschiedlichsten Menschen sein.
Dieser Text erschien zuerst im kreuzer 02/17.