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Politik

»Ich rechne doch nicht damit, im Krankenhaus zu landen«

Zahlreiche Verletzte nach Protest gegen Abschiebung, keine Anzeigen gegen Polizisten – Opfer von Polizeigewalt fürchten Gegenanzeigen

  »Ich rechne doch nicht damit, im Krankenhaus zu landen« | Zahlreiche Verletzte nach Protest gegen Abschiebung, keine Anzeigen gegen Polizisten – Opfer von Polizeigewalt fürchten Gegenanzeigen

Nach einer spontanen Demonstration gegen eine Abschiebung eskaliert die Situation im Leipziger Osten. Die Polizei greift mit Gewalt durch, zahlreiche Personen werden teils schwer verletzt. Anzeige erstatten möchte niemand von ihnen – aus Angst vor Gegenanzeigen. Zwei Demonstranten sitzen seit drei Wochen in Untersuchungshaft – weil sie keine deutschen Staatsbürger sind. Ein Verteidiger sieht Parallelen zur Justizpraxis nach G20 in Hamburg.

Noch immer kämpft Kim* mit Schwindelattacken. Mehr als eine Woche ist vergangen, seitdem man ihn aus dem Krankenhaus entlassen hat. »Schädel-Hirn-Trauma durch Schlag mit Schlagstock auf den Hinterkopf«, so steht es im Arztbrief der Klinik. Auch von »Tritten und Schlägen gegen den Körper« ist in dem Dokument zu lesen. »Ich merke die Verletzungen jetzt noch. Erschütterungen spüre ich viel stärker, ich kann nicht Fahrrad fahren, nehme Sachen lauter wahr. Auch psychisch ist eine Kopfverletzung eine starke Belastung. Das kann ja auch richtig übel ausgehen«, erzählt Kim.

Mitte Juli sitzt er in einem Café nicht weit entfernt von dem Ort, an dem in der Nacht des 9. Juli ein syrischer Kurde abgeschoben werden sollte. Spontan versammelten sich an jenem Dienstagabend rund 500 Menschen in einer Seitenstraße im Leipziger Osten. »Wir sind hier, wir sind laut. Weil ihr uns die Nachbarn klaut«, riefen sie. Zeitweise blockierten Demonstrantinnen und Demonstranten ein Polizeiauto. Kurz vor zwei Uhr nachts eskalierte die Situation. Als Polizeibeamte den Bereich um das Auto räumen, sei es zu Stein- und Flaschenwürfen gekommen, heißt es in der Polizeimeldung. Augenzeugen schildern, die Polizei sei gewaltsam in die Menschenmenge gestürmt und habe die Lage grundlos eskalieren lassen. Auch Kim war vor Ort.

»Ich stand mit dem Rücken zur Polizei, habe mich weggedreht, weil da schon auf Menschen eingeschlagen wurde. Als ich den Schlag auf den Kopf bekommen habe, hat es kurz geblitzt und im nächsten Moment lag ich auf dem Boden«, schildert er. Umstehende sollen ihn aus der Menschenmenge gezogen und ins Krankenhaus gebracht haben. Wenn Kim davon erzählt, macht er lange Pausen, überlegt, scheint jeden Satz im Kopf mehrmals hin und her zu drehen. Lange Haare, eher schmächtig, er ist kein Mensch der wirkt, als würde er versuchen, sich gegen einen gepanzerten Polizisten zu stemmen. »Eine Grundanspannung war da, aber ich rechne doch nicht damit, stationär im Krankenhaus zu landen«, rekapituliert er die Situation. Seine Verletzungen sind gut dokumentiert, Anzeige gegen die Polizei will er dennoch nicht erstatten. Er sagt, in dem Fall erwarte er eine automatische Gegenanzeige.

Polizei Leipzig: Keine Anzeigen gegen Beamte, keine Notwendigkeit für dienstrechtliche Konsequenzen

Von einer schweren Kopfverletzung durch einen Polizeischlagstock weiß man bei der Leipziger Polizei hingegen nichts. Polizeisprecher Andreas Loepki teilt dem kreuzer mit, dass in Zusammenhang mit dem Einsatz am 9. Juli bisher keine Erkenntnisse bezüglich Anzeigen gegen Polizeibeamte vorliegen. »Ebenso bestehen keine Erkenntnisse, die Anlass zu dienstrechtlichen Schritten böten.« Hinweise darauf, dass bei dem Einsatz Demonstrantinnen, Passanten oder Anwohner verletzt wurden, gebe es laut Loepki »allein in medialer Art«.

»Ebenso bestehen keine Erkenntnisse, die Anlass zu dienstrechtlichen Schritten böten.«Andreas Loepki, Pressesprecher der Polizei Leipzig.
Dabei ist Kim vermutlich nicht die einzige Person, die in dieser Sommernacht von Polizisten verletzt wurde. In der Notaufnahme seien neben ihm noch zahlreiche weitere Verletzte gewesen, erzählt er. Die Ärzte hätten sofort gewusst, von wo Kim angeliefert wurde. Auf Nachfrage teilt die Klinik dem kreuzer lediglich mit, in jener Nacht seien »keine deutlich erhöhten Patientenzahlen zu verzeichnen gewesen«, auf Einzelheiten könne man aufgrund des Datenschutzes nicht eingehen.

Das Leipziger Bündnis »Cop Watch Le« spricht von »Dutzenden Verletzte durch Schläge und Tritte, Bewusstlose, mindestens einen gebrochenen Oberschenkel durch Tritte, Platzwunden, Prellungen und viele offene Wunden«. Ähnlich dramatisch lauten die Schilderungen mehrerer Leipziger Lokalpolitiker und -politikerinnen, die an dem Abend vor Ort waren. Der Leipziger SPD-Landtagskandidat Arnold Arpaci schreibt auf Twitter von »Dutzenden Verletzten«, nachdem die Lage ohne erkennbaren Grund eskaliert sei.

»Für das Vorgehen der Polizei gab es keinen Anlass«, erklärt der Leipziger Grünen-Politiker Jürgen Kasek. Ähnlich bewertet die Leipziger Stadträtin und sächsische Landtagsabgeordnete Juliane Nagel von der Linken die Situation: Sie habe eine vollkommen friedliche Menge wahrgenommen. »Aus meiner Sicht hätte die Polizei den Einsatz abbrechen müssen. Stattdessen ging sie mit rigoroser Gewalt vor. Menschen wurden auseinandergetrieben, gejagt und verletzt.«

Videos des Abends zeigen, wie Polizeibeamte einzelne Personen jagen und erst wieder von ihnen ablassen, als diese zu Boden gehen. In anderen Aufnahmen sind Schläge und Tritte gegen Personen zu sehen, die am Boden liegen.

Zwei Personen in Untersuchungshaft – Verteidiger sieht Parallele zu G20

Besonders schnell reagierte das sächsische Innenministerium auf die Ereignisse im Leipziger Osten. Mehrere Stunden bevor sich die Leipziger Polizei erstmals zu den Ereignissen äußerte, wurde am Morgen nach den Ausschreitungen bereits ein Statement von Sachsens Innenminister Roland Wöller veröffentlicht. Er sei «entsetzt darüber, mit welcher Wut und Gewalt die Polizeibeamten bei ihrer Arbeit bedroht und angegriffen wurden«, heißt es darin. Das Innenministerium spricht von elf verletzten Beamten. Man werde gegen die Verantwortlichen zügig ermitteln und diese mit harten Strafen zur Rechenschaft ziehen, erklärte Wöller.

Mindestens drei Personen wurden an dem Abend verhaftet. Zwei von ihnen sitzen seitdem in Untersuchungshaft – weil sie keine deutschen Staatsbürger sind, wird Fluchtgefahr angenommen. Rechtsanwalt Christian Mucha vertritt einen der Inhaftierten, der zu Besuch bei Freunden im Leipziger Osten war, als dort die Gewalt eskalierte. Laut Mucha wird seinem Mandanten unter anderem Landfriedensbruch und gefährliche Körperverletzung vorgeworfen. »Ihm werden alle – möglicherweise – verletzten Polizeibeamten und beschädigten Einsatzwagen an diesem Abend zugerechnet, ohne dass ihm selbst eine konkrete Verletzung oder Sachbeschädigung vorgeworfen wird.« Auf einer Kundgebung am Tag nach dem eskalierten Polizeieinsatz spricht eine Freundin des Inhaftierten und erklärt, ihr Freund sei plötzlich und ohne Grund verhaftet worden.

Verteidiger Mucha sieht im Umgang der sächsischen Justiz mit der Nacht des 9. Juli Parallelen zum Vorgehen der Ermittlungsbehörden in den G20-Verfahren. Nach den Ausschreitungen rund um den G20-Gipfel in Hamburg saß ein italienischer Schüler knapp fünf Monate in Untersuchungshaft, weil Fluchtgefahr unterstellt wurde. Ihm wurde ebenfalls keine eigenhändige Beteiligung an Straftaten vorgeworfen.

»Was soll ich machen, wenn Polizisten behaupten, ich hätte Flaschen geworfen?«

Auch ein ehemaliger kreuzer-Redakteur war am 9. Juli vor Ort, um sich ein Bild von der Situation zu machen – und wurde verletzt. »Ich habe mir das von der anderen Straßenseite angesehen. Als das schon aufgelöst war, sah ich Polizisten auf mich zu rennen«, erinnert er sich. Er habe die Arme hochgenommen und sich abseits in einen Hauseingang gestellt. »Die Polizeikette stürmte an mir vorbei. Ein Polizist kam mit gezogenem Schlagstock zurück, guckte mir in die Augen und zog mir den Knüppel über die Hände,« schildert er. Wenige Minuten später sei er von einem anderen Polizisten zu Boden gestoßen und erneut geschlagen worden. Am nächsten Tag stellt ein Arzt drei geprellte Finger, Prellungen an beiden Knien, Schürfwunden und Hämatome fest.

Auch er hat bisher keine Anzeige erstattet – aus Angst vor einer Gegenanzeige: »Was soll ich denn machen, wenn sich dann drei oder vier Polizisten hinstellen und behaupten, ich hätte Flaschen geworfen?« Ein Anwalt rät ihm, dass es besser sei, wenn sein Name vorerst nicht in der Zeitung steht.

»Es ist ja vorher klar, dass Ermittlungen wegen Körperverletzung im Amt fast immer eingestellt werden und die Anzeigenden meist eine Gegenanzeige bekommen.« Lisa Löwe, Cop Watch Le.
Für Lisa Löwe, Sprecherin von Cop Watch Le, ist es keine Überraschung, dass bei der Polizei bisher keine Anzeigen eingegangen sind. »Es ist ja bereits vorher klar, dass Ermittlungen wegen Körperverletzung im Amt fast immer eingestellt werden und die Anzeigenden sogar meist eine Gegenanzeige bekommen. Die Opfer von Polizeigewalt werden so einer doppelten Repression unterzogen.«

Neue Studie: Polizeigewalt deutlich höher als gedacht, keine Fehlerkultur bei der Polizei

Dieser Eindruck deckt sich mit einer neuen Studie, über die das ARD-Magazin »Kontraste« und der Spiegel Ende Juli berichten: Polizeigewalt in Deutschland ist demnach deutlich höher als gedacht. Laut Forschern der Universität Bochum gibt es jährlich 12.000 mutmaßlich rechtswidrige Übergriffe von Polizeibeamten - fünfmal mehr als angezeigt. In der Polizei herrsche keine echte Fehlerkultur, erklärt Kriminologe Tobias Singelstein, der die Studie geleitet hat, im Spiegel: »Oft herrscht das Verständnis vor: Die Polizei macht keine Fehler.«

»Zweifel an der Verhältnismäßigkeit wollten die nicht aufkommen lassen.« Landtagsabgeordnete Juliane Nagel über das Gespräch von Leipzig nimmt Platz mit der Leipziger Polizeiführung.
Ende Juli trafen sich Leipziger Politikerinnen und Politiker mit der lokalen Polizeiführung. Nach dem strittigen Einsatz hatte das Bündnis Leipzig nimmt Platz die Polizei scharf kritisiert und in einem offenen Brief an den Leipziger Polizeipräsidenten um ein Gespräch gebeten. »Zweifel an der Verhältnismäßigkeit wollten die nicht aufkommen lassen«, fasst Juliane Nagel das Gespräch dem kreuzer gegenüber zusammen. Man habe seitens der Polizei möglichst wenig über das konkrete Geschehen sprechen, sondern stattdessen in die Zukunft blicken wollen.

Unmittelbar nach dem Gespräch mit Leipzig nimmt Platz veröffentlichte die Leipziger Polizei eine knappe Pressemitteilung, in der sie betont, dass das Gewaltmonopol beim Staat liegt. »Hinsichtlich des Verlaufs solcher Ereignisse bestand insbesondere Einigkeit über die herausgehobene Bedeutung von Kommunikation«, schließt die Polizeimeldung. Leipzig nimmt Platz unterstreicht als Fazit des Gesprächs hingegen erneut die Forderung nach einer Kennzeichnungspflicht für sächsische Polizisten und eine unabhängige Beschwerdestelle.


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