Unzählige Bücher überfluten den Markt. Linn Penelope Micklitz und Josef Braun helfen einmal wöchentlich auf »kreuzer online« bei der Auswahl. Diesmal lernt Literaturredakteurin Linn Penelope Micklitz in »AktenEinsicht. Geschichten von Frauen und Gewalt« die vielschichtigen Probleme der Justiz kennen – und mögliche Lösungen.
Sie heißen Claudia, Marcella, Alina, Mia, Eva, Monique, Iryna, Faizah. Sie könnten auch Lena, Leyla oder Lara heißen. Und diese Liste könnte ins Unendliche fortgesetzt werden.
Strafrechtsanwältin Christina Clemm verteidigt die Menschen, die sich hinter diesen beispielhaften Namen verbergen, die sexualisierter oder rassistisch motivierter Gewalt zum Opfer fallen. In ihrem Buch »AktenEinsicht« lässt die Juristin die Leserinnen und Leser an ausgewählten Fällen und deren Hintergründen teilhaben: Denn hinter diesen fiktiven Namen verbergen sich reale Verbrechen. Verbrechen, die tagtäglich an Frauen begangen werden, weil sie Frauen sind.
Dieses Buch bietet, soviel sei gleich vorweggenommen, nicht die allabendliche Gruselinszenierung der diversen True-Crime-Formate, mit denen sich so leicht die Zeit vertreiben lässt. Was Clemm erzählt, ist faktenbasiert, mit Quellen und Studien belegt – und es beugt sich keinem Spannungsbogen, der einen möglichst gut unterhalten soll. Was wir hier lesen sind die kleinteiligen Prozesse eskalierender Gewalt und ihrer langwierigen und oft ineffizienten Ahndung und Bekämpfung. Wir lesen von Frauen, die sich, von engen Angehörigen zu Opfern gemacht, an die Justiz wenden, um zu ihrem Recht zu kommen, und die nach zermürbenden und retraumatisierenden Verfahren zum aufgeben gezwungen werden.
Sachlich, aber nicht minder anschaulich, schildert Clemm die steinigen Wege, die Frauen bewältigen müssen, um Gerechtigkeit zu erfahren. In Einschüben erklärt sie die juristischen Hintergründe bestimmter Vorgehensweisen und Entscheidungen, erläutert Fachbegriffe und Gesetze. Die Kämpfe, die in »AktenEinsicht« ausgefochten werden, sind oft frustrierend – selbst beim Lesen, mit sicherem Abstand zum Geschehen, will man manchmal vor Wut schreien oder fassungslos den Kopf schütteln. Leserinnen, die die Schilderung von Gewalt an Frauen triggert, sollten von dieser Lektüre absehen. Alle anderen sind trotz allem ausdrücklich dazu aufgerufen: Denn den Missständen, die noch immer in den Organen der Strafverfolgung herrschen, ist mit Unwissen nicht beizukommen. Und dass es Lösungen gibt, das stellt Clemm immer wieder klar. Als erfahrene Verteidigerin zeigt sie zahlreiche Möglichkeiten auf, die Situation von Opfern sexualisierter Gewalt zu verbessern. Ein empowerndes Buch, das wütend macht, und mutig.