Sachsen erlässt strengere Ausgangsbeschränkungen als von der Kanzlerin verkündet und lässt die Bürger im Unklaren, was eigentlich noch erlaubt ist – eine kafkaeske Situation
»Dafür gibt es bis jetzt noch keine genaue Definition.« Die Twitter-Antwort der Polizei Sachsen bewirkte am späteren Sonntagabend einige Beunruhigung. Denn sie konnte eine entscheidende Regel der verschärften Ausgangsbeschränkung nicht erklären – nur wenige Stunden bevor diese in Kraft trat. Da erleben die Bürgerinnen also eine massive Beschneidung der Grundrechte und können sich nicht einmal sicher sein, das Minimum an Bewegungsfreiheit noch rechtssicher zu gestalten. Man steht wie bei Kafka vorm Gesetz, ist im Zweifelsfall auf die Kulanz der Kontrolleurinnen angewiesen zu sein.
Die seit Montag Null Uhr geltende Allgemeinverfügung zur Corona-Pandemie ist in Sachsen vor allem eine verschärfte Ausgangsbeschränkung. Das macht Punkt eins unmissverständlich klar: »Das Verlassen der häuslichen Unterkunft ohne triftigen Grund wird untersagt.« Anschließend werden unter anderem folgende mögliche »triftige Gründe« aufgezählt, das Haus zu verlassen:
- Arbeitsort und Arbeitsweg- Einkauf von Lebensmitteln, Arznei- Inanspruchnahme von medizinischen und psychosozialen Versorgungsleistungen- unaufschiebbare Termine vor Gericht, bei Behörden etc.- Besuch bei hilfsbedürftigen Verwandten- Beerdigungen- Gassigehen und Tierversorgung- Sport und Bewegung an der frischen Luft »im Umfeld des Wohnbereichs«
Diese Gründe soll man im Fall einer Kontrolle durch mitgeführten Personalausweis, Schreiben des Arbeitgebers und andere Dokumente begründen können. Der sächsische Erlass ist strenger als die allgemeinen Richtlinien der Bundesregierung, das gleichzeitige Inkrafttreten schafft Verwirrung. Eine Übersicht der Ausnahmen zur Ausgangsbeschränkung listet das Gesundheitsamt Leipzig auf, die Allgemeinverfügung im vollständigen Wortlaut findet sich hier. Besonders unklar ist der letzte Punkt. Was soll »im Umfeld des Wohnbereichs« bedeuten, wie wird das definiert? Genau weiß das keiner – und das ist sogar von den Verantwortlichen gewollt.
Ist es der Wohnblock, das Viertel, das Postleitzahlengebiet oder mehr? Wird jemand aus Gohlis zur Geldstrafe verdonnert, weil er im Friedenspark joggt? Darf jemand aus Lindenau im Rabet spazieren? Und wie sieht für die Person an der Pferderennbahn aus? »Die eigene Stadt«, antwortete Innenminister Roland Wöller auf die Journalistenfrage nach einer Definition. Was für Leipziger eine Beruhigung wäre, würde Menschen auf dem Land ratlos lassen. Oder meinte der Minister größere Gemarkungen wie Gemeinde oder Kommune? Das könne man nicht klar definieren, erklärt der Pressesprecher der Stadt Leipzig Matthias Hasberg im Hintergrundgespräch mit dem kreuzer. Man könne das nicht als Radius in Metern oder Kilometern angeben, das sei in den sächsischen Gemeinden von Fall zu Fall sehr verschieden, deshalb hat die Landesregierung einen vagen Begriff benutzt. Es gebe für diesen Pandemiefall keinen fertigen Plan in der Schublade. Die Stadt vertraue auf das eigene Ermessen der Bürgerinnen und die Ermessensspielräume kulanter Kontrollbehörden; immerhin haben alle das gemeinsame Ziel, die Pandemie einzudämmen. Und natürlich kann man am Ende noch immer den Gerichtsweg beschreiten.
In sozialen Netzwerken wunderten sich einige Kommentatoren, warum die autoritätshörigen Bürgerinnen nun unbedingt vom Staat definiert haben möchten, was ihr Wohnumfeld ist. Das lässt sich spöttisch so formulieren. Dass aber die einzige Möglichkeit, das Haus ohne einen externen Anlass, nämlich für einen Spaziergang oder eine Sportaktivität verlassen zu können, bewusst vage formuliert ist, kann man auch als skandalös empfinden. Bewusste Rechtsunsicherheit bei einer die Grundrechte dermaßen beschneidenden Maßnahme schafft kein Vertrauen. Auch nicht der Hinweis auf das »Augenmaß der Ordnungsbehörden«, auf das der Innenminister vertraue. Die sächsische Polizei ist nicht gerade für Milde und Zurückhaltung bekannt. Eine kreuzer-Nachfrage bei der Polizeidirektion Leipzig blieb bis Redaktionsschluss unbeantwortet. Wir wollten wissen, wie die Polizei mit der vagen Bezeichnung umgeht.
So bleibt jeder Gang vor die Tür wie das Fischen im Trüben. Teilen die Kontrolleurinnen das persönliche Ermessen, dass das Spazieren am See, in Park und Auwald schon zum Wohnumfeld zählt? Das ist Willkür, die ein Rechtsstaat eigentlich ausschließen soll; selbst wenn man die Hoffnung der Verantwortlichen auf das Wohlwollen der Kontrollierenden teilen mag. Das Frischlufterlebnis gewinnt so etwas Kafkaeskes, man ist im Ungewissen vor dem Gesetz. Wie dort der Türwächter einen nicht sagen kann, wann man hineindarf, so kann einem niemand sagen, ob man noch richtig geht.
Über die Einschnitte in Grundrechte und deren Verfassungsmäßigkeit wird zu diskutieren sein, wenn das Gröbste der Pandemie überstanden ist. Und auch über Maßnahmen, damit die Ausnahmesituation nicht zum Normalfall bei jedweder Problemlage wird. Denn so eine schleichende Normalisierung zählt zur Logik der Institutionen: Was einmal funktioniert hat, wird gern wieder herangezogen. Man denke an den sogenannten Hooligan-Paragrafen: Erst diente er dazu, mutmaßlich gewalttätigen Fußballfans die Ausreise zu verweigern, dann wurde er auf politische Demonstranten ausgedehnt. Das muss in diesem Fall verhindert werden – auch um zu verhindern, dass diese Rechtsunsicherheit noch in andere Bereiche anzieht als »nur« Spazierengehen. Rechtswissenschaftler Uwe Volkmann bringt den Auftrag für die Zukunft auf den Punkt: »So oder so werden wir irgendwann wieder lernen müssen, die Welt nicht nur durch die Brille der Virologen zu betrachten.«