Unzählige Bücher überfluten den Markt. Linn Penelope Micklitz und Josef Braun helfen einmal wöchentlich auf »kreuzer online« bei der Auswahl. Diesmal liest Micklitz’ derzeitiger Vertreter Benjamin Heine »Am Strand von Bochum ist allerhand los« – auch weil das mit dem Verreisen und dem Postkartenschreiben diesen Sommer ja etwas kompliziert ist.
Mit einer Fußnote ist es ein bisschen so wie mit dem ersten Betreten eines Sees – man weiß nie so recht, wie tief es gehen wird, ob man erfrischt wird oder enttäuscht. »Am Strand von Bochum ist allerhand los« lässt uns das wunderbar nachvollziehen. Das Buch versammelt nicht nur 389 sehr lesenswerte Postkarten Jurek Beckers, die der Schriftsteller zwischen 1978 und 1997 an seine Liebsten schrieb, sondern auch einige seltsame Fußnoten.
Ob Becker zuhause war, im Urlaub oder (zumeist) auf Einladung des Goethe-Instituts in der Welt unterwegs – seine Postkarten sind immer witzig oder liebevoll. Oder beides. In dem 2018 von seiner Witwe herausgegebenen Buch sehen wir Vorder- und Rückseite der Karte sowie den transkribierten Kartentext samt einer kurzen Einordnung: wann, von wo, wem, wohin. Ein wenig Einordnung schadet bei jahrzehntealten Postkarten natürlich nicht, aber man kann das Buch auch sehr gut ohne lesen. Vielleicht als einen bebilderten Roman, dessen lakonische Hauptfigur man mögen wird, wenn man liest, was er seiner Frau, seinen Kindern, seinen Freunden und Freundinnen so schreibt: »Es ist schon etwas merkwürdig, neben Dir zu sitzen und eine Karte an Dich zu schreiben. Will nur sagen, daß Mexico ohne Dich nur die Hälfte wert gewesen wäre. Vielleicht sogar nur ein Drittel«, heißt es 1987 an seine Frau Christine Becker.
Wir lesen in den Karten neben Skurrilem und Alltäglichem auch Erhellendes über die Welt: »Kanada macht auf mich irgendwie den Eindruck, als wäre eine DDR-Firma beauftragt worden, USA-Verhältnisse hier einzuführen.« Oder: »Houston gehört zu den 5000 schönsten Städten, die ich kenne. Es gibt dort den größten Parkplatz der Welt.« In einer Karte steht: »Der eine geht dahin, der andere dorthin. Der eine sagt dies, der andere jenes. Der eine versteht deutsch, der andere nicht.« Die Karte sendet er aus Polen.
Und dann sind da eben noch die Fußnoten. Mal offenbaren sie Sensationen wie: »Manfred Krug war Sammler alter Teppiche«, mal lassen sie einen ratlos zurück. Will die Herausgeberin, also jene Frau, die von Jurek Becker als Gewürzgurke, Mottenkugel oder Fischbrötchen angeschrieben wurde, dessen Humor aufgreifen oder aber uns für dumm verkaufen, wenn sie »erklärt«, was der KGB (»Geheimdienst der Sowjetunion«) oder der Ku-Damm (»Der Im Westen Berlins gelegene Boulevard Kurfürstendamm«) und wer Günter Grass (»ein deutscher Schriftsteller«) ist?
Mindestens zwei wesentliche Erkenntnisse halten die Karten übrigens auch für diesen coronabeschwerten Reisesommer bereit. Die eine entlarvt die beiden wichtigsten Ausreden aller nicht Schreibenden: »Diese Karte solltest Du eigentlich aus Usbekistan kriegen. Nun bin ich nicht gefahren, aber es wäre ja nicht in Ordnung, wenn Dir dadurch ein Kartennachteil erwächst« sowie »Ich fände es ungerecht, wenn Du bloß deshalb keine Karte aus Reykjavik kriegst, weil Du zufällig auch hier bist.« Die andere erinnert an die wichtigste Maxime des Urlaubs überhaupt, ob nun fern oder daheim: »Zwischen Nichtstun und fast nichts tun ist ein gewaltiger Unterschied, den der Erholungsbedürftige nicht aus den Augen verlieren sollte.« Amen.