Im Juli berichtete der kreuzer über den Übergriff eines LVB-Kontrolleurs auf einen Fahrgast. Viele Menschen waren empört und warfen dem Mitarbeiter Rassismus vor. In ihrem Kommentar erklärt unsere Autorin Sibel Schick, warum der Fall eigentlich gar nichts mit Rassismus zu tun hat und eine begriffliche Differenzierung wichtig ist.
Ich starre auf meinen Telefonbildschirm. Ich bin auf dem Weg auf eine Fotografieausstellung, weil ich vielleicht darüber schreiben möchte. Normalerweise kümmere ich mich um die Social-Media-Kanäle vom kreuzer. Aber dieses Mal laden meine Kollegen was hoch.
Ich starre also auf meinen Bildschirm. Das Video, das Michael Kees filmte und wir zuerst über unseren Twitter-Account verbreiteten, startet automatisch. So wie jedes Mal, wenn ein Video auf meiner Timeline automatisch startet, denke ich nur ganz kurz, dass ich diese Funktion endlich mal abstellen muss. Und wie immer vergesse ich den Gedanken wieder ganz schnell. Ich sehe jetzt einen Mann auf meinem Bildschirm, der einen anderen würgt. Der Film läuft tonlos, ich lese die Untertitel: »Hören Sie auf! Er stirbt!« Ich frage mich, ob ich mir gleich vielleicht ansehen muss, wie jemand stirbt.
Dass sich der LVB-Kontrolleur so auf eine andere Person stürzt ist nicht nur schrecklich, sondern auch eine klare Grenzüberschreitung. Ganz unabhängig davon, was davor passierte – außer Selbstverteidigung rechtfertigt das nichts. Das Opfer hätte sterben können – wofür? Was kostet eine Fahrkarte? Was kostet ein Menschenleben?
In Happyland sind die Möglichkeiten grenzenlos
Seit der Veröffentlichung wird in Leipzig heftig diskutiert, wie es so weit kommen kann, dass ein Fahrkartenkontrolleur jemanden, der wehrlos ist, so angreift. Ich persönlich stelle mir andere Fragen. Ich frage mich, wie dieser Kontrolleur mit Menschen umgeht, die nicht weiß sind, wenn er sie ohne Fahrkarte erwischt. Ich frage mich, was er einem Schwarzen Mann oder einer Frau mit Kopftuch antun könnte, wenn er mit einem weißen Australier so umgehen kann. Ich bin mir sicher, dass ich nicht die einzige bin, die von Rassismus betroffen ist und sich mit ähnlichen Fragen beschäftigt.
Noch vor ein paar Jahren hat man hierzulande überhaupt die Existenz der alltäglichen rassistischen Ausgrenzung infrage gestellt. Gibt es Rassismus in Deutschland? Wie kann es sein – wir haben doch keinen Faschismus mehr? Ohne die sozialen Netzwerke wäre die Frage heute noch denkbar gewesen. Deutsche lebten bis vor kurzem noch in ihrem »Happyland« – in einem glücklichen Ort, in dem es keine Diskriminierung gibt, alle leben und leben lassen. Diesen Begriff verwendet Tupoka Ogette in ihrem Buch »Exit Racism«. Den glücklichen Ort Happyland gibt es aber leider nur für weiße Deutsche. Ich weiß, Leipziger fühlen sich anders. Hier sind wir links und in linken Zusammenhängen gibt es keinen Rassismus. Oder? Ja, in Happyland sind die Möglichkeiten grenzenlos.
Die Ideologie Rassismus
Seit der Veröffentlichung des besagten Videos musste ich mehrfach lesen, dass es sich dabei um einen rassistischen Angriff handele. Die Jusos Leipzig twitterten das und auch bei »Leipzig nimmt Platz« wird in Bezug auf das Video von Rassismus gesprochen. Selbst der LVZ-Chefredakteur vergleicht das Video mit dem aus den USA, in dem George Floyd getötet wird. Zur Begründung heißt es, dass das australische Opfer kein Deutsch sprach und der Kontrolleur irgendwas wie »Wir sind hier in Deutschland« gesagt hat. Dieser Spruch – auch ich kenne ihn aus persönlicher Erfahrung, auch ich musste ihn mir anhören, bevor ich gut Deutsch sprach – ist in der Regel rassistisch gemeint. In diesem Fall ist es das aber ausnahmsweise nicht.
Warum nicht? Rassismus ist die Ideologie, die her musste, um die Versklavung von Schwarzen Afrikanern durch weiße Europäer moralisch zu legitimieren und so die Aufrechterhaltung dieses Systems zu gewährleisten. Menschen zu entmenschlichen mag zwar profitabel sein und dadurch eine Weile funktionieren, aber es braucht auf Dauer eine moralische Stütze. Dafür wurde der Rassismus entwickelt: Weiße Menschen stehen dabei ganz oben an der Spitze der Machtpyramide und Schwarze ganz unten. Ein vergleichbares System, das Weiße entmenschlicht und auf ihre systematische Benachteiligung und Diskriminierung abzielt, gibt es in der Welt, in der wir leben, nicht. Daher können weiße Menschen keinem Rassismus ausgesetzt sein.
Die Sorgfalt mit den Begriffen
Aber was ist es, wenn ein weißer Mann einem anderen weißen Mann sagt: Du musst die Sprache meines Landes sprechen, sonst muss ich dir nicht auf Augenhöhe begegnen? Das nennt man Nationalismus. Der gute alte deutsche Nationalismus. Der Cousin von Rassismus. Ähnlich, aber nicht dasselbe.
Es ist existenziell wichtig, dass wir mit Begriffen sorgfältig umgehen, wenn es um Unterdrückungsmechanismen geht. Den Angriff auf einen weißen australischen Mann rassistisch zu nennen, verharmlost den echten Rassismus. Den also, der sich gegen nicht-weiße Menschen richtet. Und die Verharmlosung rassistischer Gewalt führt zu mehr rassistischer Gewalt und weniger Sichtbarkeit. Eine Ungenauigkeit in Begriffen kann in diesem sensiblen Fall also nachhaltigen Schaden anrichten und Menschenleben kosten. Und das können wir uns nicht leisten.