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Kultur

Unter dem Mantel der Wissenschaftlichkeit

Die Geschichte von Sinti und Roma in Leipzig

  Unter dem Mantel der Wissenschaftlichkeit | Die Geschichte von Sinti und Roma in Leipzig

Die Ausstellung »Auf dem Dienstwege« zeigt wie die Stadtgesellschaft an der Deportation von Sinti und Roma im Nationalsozialismus beteiligt war. In historischen Dokumenten wird besonders deutlich, welchen Anteil der Leiter des Instituts für Rassen- und Völkerkunde der Universität Leipzig daran hatte.

Unter dem Motto »Latcho Dives« - Guten Tag - findet derzeit das 1. Leipziger Kulturfestivals der Roma und Sinti in Leipzig statt. In einer Ausstellung zeigt es die Schattenseiten von zahlreichen Sinti und Roma in der Messestadt. Unter dem Titel »Auf dem Dienstwege« erinnert sie in der Unteren Wandelhalle im Neuen Rathaus an die Zeit des Nationalsozialismus. Die im Auftrag der Stiftung Weiterdenken organisierte Präsentation lässt an Stellwänden Opfer wie auch Täter zu Wort kommen. So zeigt die kleine Ausstellung einen sehr wichtigen Aspekt der Stadtgeschichte, der es bisher noch nicht in das kollektive Gedächtnis schaffte.

Zahlreiche, ausgewählte historische Dokumente zeigen, wer wie in der Stadt aktiv an der Registrierung, Ausgrenzung bis zur Deportation von Sinti und Roma beteiligt war. Unter dem Mantel der Wissenschaftlichkeit tut sich vor allem Otto Reche hervor, der früher als in anderen Städten eine konsequente Registrierung forderte und dafür auch Helfer fand - wie etwa die Pfarrämter in der Stadt.

1934 schlägt Reche, der Leiter des Instituts für Rassen- und Völkerkunde der Universität Leipzig, dem Polizeipräsidenten vor, »die in Deutschland vorhandenen Bastarde in einer Kartei zu sammeln.« Die Anfrage wird zuerst an das Bezirkskirchenamt geleitet, das es dann an die Kirchgemeinden entsendet. Dabei geht es um die Auskunft über Gemeindemitglieder, ob sich unter den Gemeindemitgliedern solche laut Reche in Leipzig lebende »Bastarde mit fremden Rassen« befinden. Das Pfarramt der Thomaskirche meldet die Familie Deußing als »Zigeuner«. An zwei Mitglieder der Familie, die in Konzentrationslager umkamen, weil sie sich nicht zwangssterilisieren ließen, erinnern seit 2015 Stolpersteine in der Großen Fleischergasse 14 B - am Eingang zum Kino.

Doch Reche wollte ganz offensichtlich noch mehr Informationen unter dem Vorwand der Wissenschaft. Der seit 1927 im Amt befindliche Leiter des Ethnologisch-Anthropologisches Instituts - später Institut für Rassenkunde und Erbgesundheitspflege - gründete bereits zwei Jahre vor seiner Berufung in Leipzig die Wiener Gesellschaft für Rassenpflege sowie ein Jahr später die Deutsche Gesellschaft für Blutgruppenforschung mit. Letztere sollte den jüdischen Einfluss auf dem Gebiet der Forschung stoppen. 1928 veröffentlichte Reche das Buch »Die Bedeutung der Rassenpflege für die Zukunft unseres Volkes«.

Im März 1935 gibt sich die Leipziger NSDAP-Kreisstelle fast schon diplomatisch in einem Antwortschreiben an Reche: Eine »anthropologische Erhebung mit Hilfe der Polizei wird wahrscheinlich aus allgemein politischen Gründen zunächst nicht zu erreichen sein. Auch anderen Orts hat sich bereits gezeigt, dass die Bevölkerung hier sehr zurückhaltend und ablehnend eingestellt ist, und im Hinblick auf ein späteres praktisches Vorgehen dürfte es unklug sein, jetzt durch eine wissenschaftliche Maßnahmen schon vorher unnötiges Aufsehen zu erzeugen.« Acht Jahre später geht der letzte Deportationszug mit Leipziger Sinti und Roma in Richtung Konzentrationslager Auschwitz.


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1 Kommentar(e)

Rüdiger Benninghaus 08.09.2020 | um 22:34 Uhr

Ich frage mich, was dahinter steckt, daß sich ein in Deutschland angesiedelter Verein "Latcho dives" nennt, wenn es doch "latscho" ausgesprochen wird/ werden soll.