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Kultur

Der Teufel steckt im Blumenladen

Wiederentdeckt: Sylvia Townsend Warners grandioser Unabhängigkeitsroman »Lolly Willowes«

  Der Teufel steckt im Blumenladen | Wiederentdeckt: Sylvia Townsend Warners grandioser Unabhängigkeitsroman »Lolly Willowes«

Unzählige Bücher überfluten den Markt. Linn Penelope Micklitz und Josef Braun helfen einmal wöchentlich auf »kreuzer online« bei der Auswahl. Diesmal liest Micklitz’ derzeitiger Vertreter Benjamin Heine »Lolly Willowes« – und ist schwer begeistert von dem so lockerleicht daherkommenden Roman über eine Frau, die sich von allen Erwartungen frei macht und Hexe wird, was wiederum seine Erwartungen sprengte.

Es ist herzzerreißend, dieses Bild. Ein kleines Mädchen spielt mit seinen älteren Brüdern, nein: die älteren Brüder werden dazu verdonnert, die viel jüngere Schwester mitspielen zu lassen. Sie machen sie zur gefangenen Prinzessin, binden sie an einen Baum und ziehen in den Kampf, sie zu befreien. Nur vergessen die herumstromernden Ritterbrüder irgendwann ihre Prinzessin, und als der Vater abends nach Hause kommt und im Garten nach den Kaninchen schauen will, findet »er Laura, wie sie zufrieden in ihren Fesseln dasaß und sich ein Lied von der Schnecke vorsang, die keinen Regenmantel besaß.«

Es ist dies nur eine kleine Rückblende ganz am Anfang von Sylvia Townsend Warners warmherzigem und skurrilem Debütroman aus dem Jahr 1926, aber sie enthält im Grunde schon alles, worum es in »Lolly Willowes oder Der liebevolle Jägersmann« geht: Erwartungen an die Jungs, sie mögen sich kümmern; Erwartungen an das Mädchen, es möge sich dem fügen; Freiheit für die einen als Ritter in der Welt, Fesseln für die andere, die passive Prinzessin; die Brüder in Gesellschaft, die Schwester allein – aber Laura ist dabei nicht einsam, vielmehr sich selbst genug, mit dem Baum und der Schnecke an ihrer Seite. Sie kann sich mit den Fesseln arrangieren. Aber, wie das Leben so spielt, irgendwann ist der Vater nicht mehr da, der sie befreit. An dieser Stelle setzt der Roman ein, Laura ist 28 Jahre alt und unverheiratet, was 1902 bedeutet: sie zieht zu ihrem Bruder und dessen Familie nach London, weg von der Ruhe, weg von sich selbst. Laura ist zu diesem Zeitpunkt bereits zu Tante Lolly geworden, weil eine ihrer Nichten den Namen so ausspricht und das alle lustig finden, also übernehmen. Da sind sie wieder die Fesseln der anderen, gegen die Laura nicht rebellieren kann – Tante ist man nicht für sich, Tanten sind Schwestern und Schwägerinnen, haben Neffen und Nichten, Tante Lolly hat nicht mal mehr ihren Namen.

Sehr lange zwanzig Jahre, aber nur fünfzig kurzweilige Seiten später sprengt Laura sich aus den Fesseln. Auf einem ihrer Spaziergänge durch London treibt es sie in einen Blumen- und Gemüseladen, zwischen erdigen Rüben, frischen Äpfeln und eingekochter Marmelade halluziniert sie sich in eine ländliche Idylle, in die Freiheit. Als der Verkäufer ihr Buchenzweige zu den gekauften Chrysanthemen schenkt und erzählt, woher sie stammen, ist die Sache beschlossen. Schnurstracks geht Laura in den nächsten Buchladen, kauft einen Reiseführer und eine Karte, nimmt das Taxi nach Hause (diese Extravaganz!) und verkündet am Abend der versammelten Familie, dass sie nach Great Mop ziehen und dort leben werde. Wobei sie es nicht verkündet, sondern nebenbei als die Selbstverständlichkeit erwähnt, die es für sie ist.

Spätestens hier schließt man die kauzige Einzelgängerin endgültig ins Herz, folgt ihr aufs Land und freut sich mit ihr, wie sie da allein sein kann und glücklich. Wie sie durch die Landschaft wandert, tut und lässt, was sie will. Wie es nochmal anders kommt und, ach ja, wie sie einen Pakt mit dem Teufel eingeht. Und eine Hexe wird. Aber das ergibt sich eben so, ganz von selbst. Was für ein großer Spaß! Was für eine große Erzählerin und Stilistin Sylvia Townsend Warner ist!


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