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»Differenziert denken«

Sandra Strauß über inspirierende Leipziger Endlichkeitskultur und ihr politisches Engagement

  »Differenziert denken« | Sandra Strauß über inspirierende Leipziger Endlichkeitskultur und ihr politisches Engagement

Die Produzentin Sandra Strauß sitzt auf einem Sofa im »Glücklicher Montag«-Studio und drückt noch schnell ihre Zigarette aus, ehe das Zoom-Interview beginnt. »Gehts euch gut?«, will sie wissen. Ja, das tut es. Dann sprechen wir über ihre Arbeit und ihre Projekte. Hier veröffentlichen wir das Interview des Monats aus der Dezember-Ausgabe des kreuzer.

kreuzer: Sie betreiben den Comicverlag »Glücklicher Montag«. Wie geht es Ihnen in der Coronakrise?Sandra Strauß: Wir haben das große Glück, dass wir zu zweit in unserem Studio sind, also gar nicht viele Interaktionen mit Leuten haben. Wir hatten unseren Alltag schon vorher so eingerichtet, dass wir viel Stift-auf-Papier-Arbeit machen können, viel via Videokonferenzen, Mail, Telefon. Auch wenn wir im Bereich Kunst und Kultur verankert sind, haben wir jetzt coronabedingt keine Einschränkungen, ganz im Gegenteil. Einer unserer Kunden, »MDR Kripo live«, braucht jetzt zum Beispiel mehr Zeichnungen, weil sie nicht drehen können. Und wir haben im Juli eine Anfrage bekommen, ein animiertes Musikvideo zu machen.

kreuzer: Wie würden Sie Ihre Arbeit bei »Glücklicher Montag« beschreiben?Strauß: Ich bin Produzentin und Geschäftsführerin. Ich mach grundsätzliche Planungssachen und Konzeption, natürlich immer zusammen mit Schwarwel (berühmter Leipziger Künstler, Illustrator und Comic-Zeichner, Anm. d. Red.), unserem Art Director. Ansonsten organisiere ich die gesamte Kommunikation mit der Außenwelt. Also quasi das, was man so im Bereich Presse, Marketing und Promotion als Verlags- und Betriebsleiterin macht. Wenn wir ein Buch herstellen, dann arbeite ich natürlich im Layout mit, oder wenn wir Auftragsarbeiten haben, dann bin ich mit unseren Auftraggebern und Auftraggeberinnen in Kontakt und koordiniere alles.

kreuzer: Neben Ihrer Arbeit als Studioleiterin sind Sie auch aktiv für die Sächsische Landesmedienanstalt, Mitglied im Filmverband Sachsen und der AG Animationsfilm. Wie bringen Sie das alles unter einen Hut?Strauß: Mit mehr als acht Stunden Arbeit am Tag. Mir persönlich kommen gerade die Videokonferenzen zugute und die Kontaktbeschränkungen, weil ich schlichtweg mehr Zeit habe.

kreuzer: Auf Ihrer Website bezeichnen Sie sich als Feministin. Sehen Sie das pragmatisch oder ist das eine Leidenschaft?Strauß: Eigentlich beides. Und es ist ja auch existenziell. Angefangen hat es, glaube ich, vor zwei, drei Jahren, als ich mich zum ersten Mal bewusst mit dem Thema Feminismus befasst habe. Die Frage ist, wie ich den Feminismus lebe. Und wir in unserem Studio leben den auch. Das finde ich immer wichtig, dass man nicht nur sagt als Frau: Ich möchte Feministin sein, sondern dass Männer genauso sagen: Ich bin Feminist.

kreuzer: Ein Großteil Ihrer Arbeit ist politisch. Woher kommt Ihr Wunsch, sich zu engagieren?Strauß: Das ist eine gute Frage. Also, es ist mir auf alle Fälle sehr, sehr wichtig, dass wir uns als »Glücklicher Montag« wirklich auch einmischen, um unsere Gesellschaft mitzugestalten. Deswegen haben wir viele Jahre Demokratieworkshops gemacht und machen die auch noch – dort, wo es notwendig ist oder gewünscht wird. Die letzten Jahre haben wir uns bewusst auf den Bereich Bildung, Medienkompetenz, Politik und Gesellschaft fokussiert, weil uns das am Herzen liegt und – rein egoistisch – auch guttut. Dass man weiß, wofür man morgens aufsteht, und wenn man abends dann ins Bett geht, auch weiß, was man getan hat. Darum geht es, glaube ich: dass man sich jeden Tag selber eine Meinung bildet und lernt, differenziert zu denken.

kreuzer: Was passiert auf einem Demokratieworkshop?Strauß: Wir fahren in die Stadt XY. Meistens ein Tag vorher, weil es früh um sieben losgeht. Erst mal zeigen wir einen unserer Filme, stellen uns kurz vor und dann fangen wir auch schon an, ins Thema reinzugehen. Also beispielsweise Friedliche Revolution, Geschichte und Diktatur. Anschließend zeichnen unsere Teilnehmer eigene Comics oder machen Karikaturen und Illustrationen. Am zweiten Tag ist ein fertiger Comic von jedem entstanden.

kreuzer: Wie sind die Reaktionen der Schüler?Strauß: Sehr gut. Am Anfang habe ich immer gedacht, wir können doch nicht mit Comicworkshops irgendwo hingehen. Es kennen nicht alle Comics und dann ist es total schwierig, sich eine Geschichte auszudenken und was zu zeichnen. Das muss auch noch auf ein oder zwei Seiten passen. Aber die haben es echt hingekriegt. Auch wenn einer nicht zeichnen kann, kann er ja Strichmännchen machen oder das mit Steinen erzählen.

kreuzer: Viele Ihrer Projekte setzen sich mit dem Tod auseinander. Was könnte sich ändern, wenn der Tod stärker ins Bewusstsein gerückt wird?Strauß: Dass man einfach einen Umgang damit lernt. Also, der Tod ist ja da und der geht auch nicht weg und wir wissen alle, dass wir irgendwann sterben werden. Das war auch der Ansatz im Rahmen der »Stadt der Sterblichen« (Kultur- und Kunstwochen zur Endlichkeit, Anm. d. Red.), dass die Gesellschaft lernt, damit um-zugehen. Wir versuchen, das auf eine unterhaltsame Art zu machen, dass man keine Angst hat, sich damit auseinanderzusetzen. Dadurch geht es einem auch schlichtweg besser.

kreuzer: Und ist dieser Umgang, den man damit findet, das, was man sich unter dem Begriff der Endlichkeitskultur vorstellen kann?Strauß: Der Ausdruck kommt vom Vorsitzenden der Funus-Stiftung Frank Pasic und den haben wir im Rahmen der »Stadt der Sterblichen« übernommen. Da steckt drin, dass man beispielsweise nicht zwangsläufig auf den Friedhof oder in ein Hospiz gehen muss, um sich eine Lesung anzuhören, sondern das kann man auch im Werk 2 oder in der Moritzbastei. Das ist der Ansatz von Frank und der Funus-Stiftung, diese Endlichkeitskultur in die Welt zu bringen.

kreuzer: Sie behandeln häufig gesellschaftliche Tabuthemen. Ist das eine bewusste Entscheidung?Strauß: Es ist eine bewusste Entscheidung, sich mit psychischen Belastungen zu beschäftigen oder mit Trauer und
Tod – das ergibt sich auch durch unsere Demokratieworkshops beispielsweise, weil man da eins zu eins mit den Menschen zusammen ist und mit deren Problemen konfrontiert wird. Etwa wenn wir Menschen in Schulkassen haben,
die Autisten sind, müssen wir auch erst mal schauen, okay, wie geht man damit um? So vor zehn, fünfzehn Jahren, als
wir angefangen haben, hat sich das langsam entwickelt, einfach durch unsere Workshops – und dann haben wir uns bewusst dafür entschieden, ja, wir wollen sogenannte Tabuthemen auch in unser Arbeitsfeld integrieren.

kreuzer: Das Buch »Nicht gesellschaftsfähig« versammelt Erfahrungen mit psychischen Erkrankungen. Was haben Sie selbst bei der Arbeit an dem Buch gelernt?Strauß: Was ich beeindruckend finde, ist, dass Leute, die im Leben stehen, wirklich tiefe psychische Belastungen haben können. Dass das zusammengehen kann, hat mich unglaublich berührt. Wir haben viele erfolgreiche Menschen dabei, die ganz normal ihren Alltag leben. Manchmal hat man ja so die Vorstellung: depressiv, liegst auf der Couch, kommst nicht hoch, Zähneputzen ist anstrengend und vielen gehts auch so, das sehen wir auch in den Texten. Aber dennoch schaffen es Leute auch, Texte zu schreiben, Bücher zu veröffentlichen, auf der Bühne zu stehen. Für manche ist das vielleicht auch die Überraschung im Buch, dass man denkt: Oh, bei ihr oder bei ihm habe ich das gar nicht gedacht.

kreuzer: Was müsste sich ändern im Umgang mit psychischen Erkrankungen?Strauß: Dass wir darüber reden. Und dass es mehr Plätze geben müsste, um eine Therapie zu machen – da musst du manchmal ein halbes Jahr warten. Und das ist natürlich, wenn es dir richtig, richtig schlecht geht gerade und du dich überhaupt schon überwunden hast, einen Psychologen anzurufen oder dich um eine Therapie zu kümmern, eine gefühlte Ewigkeit. Und dass es auch mehr Vereine und Verbände gibt, die Unterstützung bekommen, so dass sie ein paar Leute mehr mit einstellen können. Und ja, dass psychische Belastungen akzeptiert werden. Wenn du Schnupfen hast oder Fieber, dann ist das was Greifbares. Aber wenn du eine Depression hast oder unter einer Persönlichkeitsstörung leidest, das sieht man ja nicht, da leuchten keine pinkfarbenen Lichter oder sonst irgendwas – und die Akzeptanz müssen wir einfach für unsere Gesellschaft noch weiter fokussieren. So dass Betroffene auch keine Angst haben, es einfach zuzugeben, dass es in unserer Gesellschaft gesellschaftsfähig ist, eine Depression zu haben, und dass man zu seinem Arbeitgeber dann auch sagen kann, ich gehe jetzt an den See, weil ich das brauche für meine Psyche, aber ich kann heute nicht zur Arbeit gehen, weil ich das gerade nicht hinkriege. Jetzt merkt man einfach seit März, dass es noch mehr Menschen betrifft, dass viele einfach in ein Loch fallen, dass sie Angst haben. Auch Menschen, die vielleicht bisher in ihrem Leben gut klargekommen sind.

kreuzer: Was für Rückmeldungen erhalten Sie, wenn Sie mit solchen Themen und Projekten an die
 Öffentlichkeit gehen?Strauß: Immer sehr positive. Wir haben es an unserem »Nicht gesellschaftsfähig«-Buch gemerkt: Alle, die wir angefragt haben, haben sofort ja gesagt. Eigentlich wollten wir ein Buch machen mit 200 bis 300 Seiten. Und weil da so viele Leute mitgemacht haben, sind es dann 600 Seiten geworden. Das Buch kommt Ende Dezember raus, dann werden wir sehen, wie da die Reaktionen sind. Dadurch, dass wir ein sehr großes Netzwerk haben und viele Menschen kennen, wissen wir immer, wen wir für welches Thema anfragen. Als wir unser »1989 – Lieder unserer Heimat«-Buch gemacht haben, hatten wir natürlich ganz andere Menschen mit dabei als jetzt bei »Nicht gesellschaftsfähig« oder bei der »Stadt der Sterblichen«.

kreuzer: Apropos 89. Wie haben Sie den Mauerfall erlebt?Strauß: Also, natürlich war es eine Umstellung für uns, aber so direkt habe ich das gar nicht mitbekommen. Ich war elf, als die Friedliche Revolution kam, und lebte 25 Kilometer entfernt von Leipzig auf einem kleinen Dorf. Früher hatten wir noch nicht so viel Social Media, man war gar nicht so vernetzt, und da hat man die News natürlich auch ganz anders bekommen. Mein Vati und mein Opi sind immer in den Westen gefahren, weil die Fernfahrer waren. Deswegen hatten wir da quasi schon einen Bezug dazu. Aber meine Eltern sind nicht in Leipzig mit auf die Straße gegangen, weil mein Vati gar nicht da war und meine Mutti ein kleines Kind und ein Haus betreuen und arbeiten
gehen musste.

kreuzer: Wie blicken Sie heute auf diese Zeit?Strauß: Wir haben dazu unseren »Dreißig Jahre Feierlaune«-Talk gemacht (Interviewformat zum Mauerfall, Anm. d. Red.). Da haben wir auch die Frage gestellt: Was war denn nicht so gut? Und ich glaube, im gesamtgesellschaftlichen Kontext haben wir jetzt auch zum allerersten Mal nach dreißig Jahren deutscher Einheit mitbekommen, dass Medien und alle anderen diese Frage auch stellen. Vor zehn Jahren war das noch nicht so. Da war die Erzählung eher: »irgendwie sind wir da zusammengekommen und jetzt Freiheit und raus aus dem Unrechtsstaat und raus aus der Diktatur und rein in die Demokratie«. Aber so war es ja nicht. Für Leute, die damals ihren Job verloren haben und keine Perspektive mehr hatten, war es natürlich nicht cool. Unser Ansatz mit den Interviews und auch mit unseren Workshops ist es, Zeitzeugen zu finden. Dass wir einfach die Leute fragen, wie sie es damals empfunden haben.

kreuzer: Was kann man sich unter dem Projekt #Wirbleibenhier vorstellen?Strauß: Da ging es um die Frage: Wie wollen wir in unserer Gesellschaft zusammenleben? Zu der Zeit war das Thema Rechtsextremismus ganz groß und wir sind deswegen auf den Hashtag gekommen, weil eben viele gesagt haben: Ey nee, wenn jetzt die AfD mit was weiß ich wie viel Prozent in den Landtag einzieht, dann ist das nicht mehr mein Sachsen oder mein Leipzig, dann zieh ich weg. Und wir haben eben gesagt: Nee, wir bleiben hier und
wir möchten hier unsere Gesellschaft gestalten.

kreuzer: Wie lange leben Sie schon, beziehungsweise noch, hier?Strauß: Ich bin 2003 hergezogen, einfach weil es sich durchs Studium ergeben hat und ich sowieso dauernd hier war. Nachmittags bin ich nach Hause gefahren und abends wieder her, weil wir dann weggehen wollten. Und zwei Mal am Tag nach Leipzig fahren ist irgendwie ein bisschen doof. Also bin ich in die Stadt gezogen. Wenn du vom Land kommst, ist das natürlich das große Ding. Aber sicherlich werde ich irgendwann mal, wenn ich älter bin, zurück 
aufs Land ziehen, weil meine Oma da ein Haus hat. Und wenn man Hunde hat, dann ist es natürlich cool, einen Garten zu haben und ein Haus. Und da ändert sich ja nicht so viel, ob man jetzt hier am Stadtrand wohnt oder 20 Kilometer weg auf dem Land.

kreuzer: Was ist Ihre früheste Leipzig-Erinnerung?Strauß: Also, da muss ich ganz, ganz weit zurück gehen. Neben dem Zoo war damals ein Kino, das war noch zu DDR-Zeiten, und da war ich mit meiner Mutti und hab mir »Das singende, klingende Bäumchen« angeschaut. Zur selben Zeit hatten wir auch Bekannte in Grünau, die 20 Kilometer bis zu denen durch ganz Leipzig fühlten sich immer wie eine halbe Weltreise an.

[caption id="attachment_119821" align="alignright" width="295"] Sandra Strauß in jungen Jahren; Foto: Privat[/caption]

kreuzer: Welche Leipzigerin, welcher Leipziger hat Sie 2020 so richtig begeistert?Strauß: Es gibt viele Leute, die mich begeistern. Ich finde wirklich alle wichtig, die ihren Mund aufmachen. Gerade auch aktuell wegen der Corona-Pandemie bin ich für alle dankbar, die ihre Meinung sagen und sich an der Gestaltung der Gesellschaft beteiligen. Ich fand es sehr gut, dass Uwe Schwabe als Bürgerrechtler ein Interview gegeben hat, weil Christoph Wonneberger gerade bei der Querdenken-Demo gesprochen hat und Schwabe das nicht cool fand. Wen ich auch unglaublich schätze, ist der Journalist Arndt Ginzel, der für ZDF »Frontal 21« wirklich viele Reportagen macht, der ist immer ganz nah dran am Geschehen, geht auf jede Demo und redet mit allen. Michael Kraske, der bei »Nicht gesellschaftsfähig« und »Dreißig Jahre Feierlaune« dabei ist, ist sehr aktiv im Bereich Ostdeutsche, Gesellschaft und Rechtsextremismus. Nicht zu vergessen Ulrike Nimz, Journalistin von der Süddeutschen Zeitung, die schreibt auch unglaublich gute Artikel. Das sind so Leipziger, die ich sehr schätze.

kreuzer: Wenn Sie nicht in Leipzig sind, wo sind Sie dann?Strauß: Da bin ich sehr, sehr viel mit meinen Hunden am See, was aber irgendwie doch zu Leipzig gehört. Aber das brauche ich einfach für meine Psyche und mein Wohlbefinden und meine Hunde brauchen das auch, die müssen raus und bewegt werden. Oder: bei meinen Eltern im Garten sitzen und auf einen Baum starren.

kreuzer: Sie arbeiten unglaublich viel – aber am Ende des Tages, wenn Sie die Beine hochlegen: Wer ist Sandra Strauß dann?Strauß: Die gleiche Person, die auch arbeitet. Ich hab noch nie einen Unterschied gemacht zwischen Job und privat, weil ich nicht der Typ für einen Nine-to-Five-Job bin und dann nach Feierabend mein Privatleben mache – das war noch nie meins. Was ich bei »Glücklicher Montag« tue, ist meine ganz eigene innere Sache und – das ist alles eins, sonst könnte ich das auch gar nicht machen.


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