Unzählige Bücher überfluten den Markt. Linn Penelope Micklitz und Josef Braun helfen einmal wöchentlich auf »kreuzer online« bei der Auswahl. Diese Woche erfährt Literaturredakteurin Linn Penelope Micklitz mehr über Alltag und Ausnahmesituationen von Menschen mit psychischen Belastungen — ein Gespräch mit Familienredakteur Josef Braun.
BRAUN: »Nichtgesellschaftsfähig« das ist ein Titel der sofort ins Auge fällt. Wer oder was ist damit gemeint?MICKLITZ: Damit sind Menschen gemeint, die in den Augen unserer Gesellschaft nicht richtig hineinpassen in unsere Vorstellung vom Alltäglichen und Normalen. Warum? Weil sie eine oder mehrere psychische Erkrankungen haben, oder, wie es im Untertitel des Buches heißt, »Psychische Belastungen«. Zum Beispiel Depressionen. Das geht nicht nur mit Vorurteilen einher, sondern ist auch mit Stigmatisierungen verbunden. Darauf folgt oft Ausgrenzung, Mobbing, Benachteiligung. Das Buch erobert diesen abwertenden Begriff für die Betroffenen zurück und es wird deutlich: Die Menschen sind Teil der Gesellschaft. Wenn sie es nicht sind, dann weil es ihnen schwer gemacht wird.
BRAUN: Der Comickünstler Schwarwel und die Herausgeberin Sandra Strauss haben das Buch in ihrem Leipziger Studio »Glücklicher Montag« zusammen auf den Weg gebracht. Was könne Sie uns zu ihnen und zu der Idee hinter diesem umfangreichen Buchprojekt sagen? MICKLITZ: Die beiden beschäftigen sich häufig mit gesellschaftlich relevanten, aber oft verdrängten Themen. Die Idee zu diesem Buch entstand auch, weil sie sich als Betroffene auskennen im Bereich psychische Belastungen. In »Nichtgesellschaftsfähig« sprechen sie darüber ganz offen. Offenheit ist auch das erklärte Ziel ihres Projektes, die beiden Fomulieren es eingangs so: »Weil es uns ein Bedürfnis ist, weil wir es existenziell und wichtig finden. Und weil nichts von dem, was hier drin steht, uns fremd ist.«
BRAUN: Welche Formen finden die Autoren im Buch über ihre psychischen Probleme zu berichten? Was für psychische Erkrankungen werden thematisiert?MICKLITZ: Das Buch kann man sich wie eine 600 Seiten starke Kleinkunstbühne vorstellen. Da treten alle nacheinander auf und zeigen, was sie bewegt und was sie können, aber eben auch ganz deutlich, worunter sie zu leiden haben. Gruppiert ist das ganze nach mehr oder weniger bekannten Diagnosen, wie Depression, Zwang, Sucht, Angst, aber auch Essstörungen, Borderline und Schizophrenie. Das ist aber nur ein Auszug, die Liste ist länger. Neben Erfahrungsberichten finden sich auch Comicstrips, Erzählungen, Gedichte, Interviews und die Vorstellung von Adressen und Anlaufstellen, bei denen Betroffenen Hilfe finden können.
BRAUN: Es gibt Fachbücher zum Umgang mit psychischen Erkrankungen, seltener auch Bücher aus der Perspektive von Betroffenen. Wie reiht sich »Nichtgesellschaftsfähig« da ein?MICKLITZ: »Nichtgesellschaftsfähig« legt seinen Fokus schon auf die Perspektive der Betroffenen und lässt diesen genau den Raum, den sie eben einnehmen. Frei nach dem Motto: Erzähl einfach mal. Das sieht man auch daran, dass die Texte nicht genormt sind. Es sollte eigentlich ein kürzeres Buch werden, aber die gewaltige Resonanz und eben die teilweise längeren Berichte haben das Ganze dann zu dem gemacht, was es heute ist. Darin zeigt sich eine tolle Sensibilität. Nimm dir den Raum den du brauchst, um deine Geschichte zu erzählen. Oft funktioniert es andersherum: Wir planen dieses und jenes, also hast du zehn Seiten um zu erzählen — und bitte den Spannungsbogen nicht vergessen. Anstatt wieder aufzuzeigen: So wie du bist, passt du hier nicht rein, bestimmen eben die Betroffenen, wann es gut ist und wann es passt. Ein schöner Leitgedanke, den wir uns als Gesellschaft zu Herzen nehmen sollten.
BRAUN: Stellt sich bei so einem herausfordernden Thema auch so etwas wie Lesevergnügen ein?MICKLITZ: Ein Vergnügen nicht, aber definitiv ein gewaltiger Sog! Ein gutes Stück des Wälzers bewältigt man in kurzer Zeit, weil man diesen unterschiedlichen Stimmen unbedingt folgen will. Es ist ein ganz ungewöhnliches Coffe-Table-Book. Eines, das die Menschen ins Gespräch bringen wird und dazu beiträgt, sich zu öffnen und Gehör zu finden. Nur ein Wermutströpfchen findet sich: Das Kapitel zu den Essstörungen mit nur einem Betroffenen-Interview und der Vorstellung eines Hilfsprojektes ist mir zu kurz geraten. Vermutlich haben sich nicht mehr Personen zu diesem Thema gemeldet — doch schon dieses kurze Kapitel zeigt, wie dringlich das Thema ist. Ich hoffe, dass die Diskussion darüber dennoch angestoßen wird. Übrigens: Die erste Auflage ist schon vergriffen, die zweite gerade im Druck. Ein Buch, dass schon Teil der Gesellschaft geworden ist.