Wegen des Neonazi-Angriffs auf Connewitz laufen nach über fünf Jahren immer noch Prozesse. Die Angeklagten profitieren vom langen Abstand zwischen Tat und Urteil.
»Zum Raum 100?«, fragt der Justizbeamte am Eingang des Amtsgerichts. Er weiß offenbar, für welche Verhandlung sich die Presse am Donnerstag, den 22. April 2021 besonders interessiert. Es ist der Prozess gegen Gianluca B., dem die Staatsanwaltschaft vorwirft, am Neonazi-Angriff auf Connewitz im Januar 2016 beteiligt gewesen zu sein. Das Urteil fällt am Tag darauf: ein Jahr und zwei Monate auf Bewährung. Weil das Verfahren so lange gedauert hat, gelten zwei Monate als vollstreckt. Außerdem muss B. 800 Euro an die Hilfsorganisation Weißer Ring für Opfer von Kriminalität zahlen.
Auf den ersten Blick passt die Strafe ins Schema der Connewitz-Prozesse: Wer zumindest ein »Teilgeständnis« ablegt, kommt mit Bewährung davon. Nur hat Gianluca B. die Tat gar nicht gestanden, was den Fall dann doch ungewöhnlich macht. Dazu kommt, dass den 27-Jährigen demnächst noch ein anderes Verfahren erwartet. Er steht im Verdacht, 2018 zwei Journalisten im thüringischen Fretterode angegriffen und schwer verletzt zu haben – zusammen mit dem ältesten Sohn von NPD-Funktionär Thorsten Heise.
Angriff mit Eisenstangen, Holzlatten und Beil
Bevor sich B. dafür vor Gericht verantworten musste, sind Jahre vergangen. Die zuständige Staatsanwaltschaft in Mühlhausen beschreibt ihn als unkooperativ. Und auch in Leipzig trägt B. wenig zum Prozess bei außer einer einleitenden Stellungnahme zum Tatvorwurf. Den rattert Staatsanwältin Sandra Daute herunter: B. habe zu der Gruppe gehört, die am 11. Januar 2016 auf der Wolfgang-Heinze-Straße in Connewitz mit Eisenstangen, Holzlatten und einem Beil randalierte. Obwohl Daute schnell liest, dauert es eine Weile, bis sie jeden einzelnen Schaden an Wohnungen, Geschäften oder Bars aufgezählt hat. Bei den beschädigten Autos braucht sie ähnlich lange. Insgesamt seien Schäden in Höhe von 113.000 Euro entstanden.
Aus Sicht der Staatsanwältin hat B. schweren Landfriedensbruch begangen, weil er sich der Menge »in Kenntnis des gemeinsamen Vorhabens« angeschlossen habe. Dafür sprächen auch die Quarzhandschuhe, die er nach eigener Aussage an dem Tag mitgebracht hatte. B. bestreitet jedoch, vom geplanten Angriff gewusst zu haben und überhaupt Teil des gewalttätigen Aufzugs gewesen zu sein.
Er und seine drei Mitfahrer seien mit dem Ziel nach Leipzig gekommen, an einer Demonstration zum ersten Jahrestag des Pegida-Ablegers Legida teilzunehmen. In der Stadt angekommen, hätten sie sich darauf geeinigt, abwechselnd auf sein Auto aufzupassen, damit es nicht durch »Linke« beschädigt werde. Da B. die erste Wache übernommen habe, sei er den anderen erst nachgegangen, nachdem ihn einer seiner Mitfahrer abgelöst hatte. Während er nach seinen Bekannten gesucht habe, sei er unverschuldet im Polizeikessel gelandet: »Dass da die Welt untergeht, konnte ich nicht ahnen.« Vielmehr habe »eine Stimmung fröhlicher Adrenalinschübe« geherrscht.
Zweifelhafte Aussage
Dass sich B. ahnungslos gibt, nennt Staatsanwältin Daute eine »Frechheit«. Das Gericht habe es mit 150 Angeklagten zu tun, die entweder »meinen, sie müssten hier so eine Geschichte erzählen« oder gleich gar nichts sagten. B. behält unter anderem die Namen seiner Mitfahrer für sich – der »Ehre« wegen. Als Beschuldigter ist das sein Recht, als Zeuge allerdings nicht. Daute kündigt deshalb an, ihn nach dem Urteil wieder vor Gericht zu laden. B. zeigt sich davon wenig beeindruckt: »Ich lasse mich gern noch mal einladen.«
Für den Zeugen Siegfried P. ist es schon der 15. Auftritt vor Gericht, schätzt er. Der Anwohner der Wolfgang-Heinze-Straße schildert, dass er durchs Fenster zusehen konnte, wie der Mob die Scheiben seines Autos einschlug. Er habe überlegt, ob er auf die Straße gehen solle, »aber das wäre wahrscheinlich auf Kosten der Gesundheit gegangen«. So blieb es für ihn beim finanziellen Schaden, den seine Versicherung nur zum Teil übernommen habe. Um Verletzte geht es im Verfahren gegen Gianluca B. nicht, obwohl es auch die gab. Der kreuzer berichtete zum Beispiel über einen Anwohner, der vermutlich mit einer Rauchpatrone beschossen wurde.
Von Pyrotechnik erzählen auch die vier als Zeugen geladenen Polizisten. Einer erinnert sich, an etwas Brennendem vorbeigerannt zu sein, bevor er und seine Einheit die Gruppe umzingelt hätten. Dass die Polizeikette Leute eingeschlossen habe, die nicht schon vorher Teil der Menge waren, hält der Beamte für unwahrscheinlich. Weitere Zweifel an B.s Aussage lassen Nachrichten in einer Chatgruppe von seinem Handy zu. Trotz dem er behauptet, nichts von den Angriffsplänen gewusst zu haben, schrieb »Gianni« am Tag vor der Fahrt nach Leipzig, er freue sich, »als wenn bald Weihnachten is«.
Verwirrung um falsches Geburtsdatum
Und dann sind da noch die Quarzhandschuhe, deren »biologische Anhaftungen« laut Gutachten »ohne vernünftigen Zweifel« hauptsächlich »G. B.« zugeordnet werden können. Der will die Handschuhe lediglich zur Verteidigung ins Auto gepackt und dann einem seiner Mitfahrer mitgegeben haben. Warum wisse er nicht mehr, möglicherweise »wegen der Kälte«. Sein Verteidiger, der rechte Szeneanwalt Klaus Kunze, macht darauf aufmerksam, dass im DNA-Gutachten von »G. B., 1992, m« die Rede ist, während sein Mandant 1993 geboren ist. Weil die Abweichung auf die Schnelle nicht aufzuklären ist, schlägt Richterin Gunter-Gröne vor, die Handschuhe als Spur aus dem Verfahren auszuschließen. Das kommentiert sie selbst als »kühnen Vorritt«, Staatsanwältin und Verteidiger stimmen ihrem Vorschlag aber zu.
Staatsanwältin Daute plädiert schließlich für eine Haftstrafe von einem Jahr und fünf Monaten. »Meines Erachtens sind Sie genauso in der Gruppe mitgelaufen wie alle anderen«, sagt sie an B. gerichtet. Darüber hinaus könne sie die Angaben des Beschuldigten nicht überprüfen, weil er die Namen seiner Mitfahrer nicht nennt. Ebenso wenig könne die Staatsanwaltschaft die Aussage seines Mandanten widerlegen, hält Verteidiger Kunze dagegen. Im Zweifel für den Angeklagten sei dieser deshalb »so unschuldig wie Ihr ungeborenes Kind«. Dem Gericht warf er eine »Verurteilungsroutine« vor. Sein Mandant würde es zudem »absolut verabscheuen«, wenn Personen randalieren.
Ein »regelrechter Tsunami« an Verfahren
Richterin Gunter-Gröne folgt dem nicht. »Es steht fest, dass der Angeklagte Teil der Gruppierung ist«, aus der heraus einzelne Personen »erhebliche Gewalt gegen Sachen verübt« haben, sagt sie einen Tag später bei der Urteilsbegründung. Der Beschuldigte habe keinerlei Reue gezeigt. Trotzdem treffe das Gericht eine günstige Sozialprognose, da B. keine Vorstrafen habe und sowohl ins Berufs- als auch ins Sozialleben integriert sei. Das Urteil berücksichtige außerdem, dass die Tat über fünf Jahre zurückliege. Dass es so lange mit den Prozessen dauere, ist laut Gunter-Gröne nicht nur für die Öffentlichkeit, sondern auch für das Gericht »ausgesprochen unbefriedigend«.
Der Angriff auf Connewitz habe einen »regelrechten Tsunami« an Verfahren ausgelöst, die oft gegen zwei Beschuldigte gleichzeitig geführt würden. Das war auch im aktuellen Fall geplant. Warum er dann doch einzeln verhandelt wurde, konnte die Pressestelle des Gerichts auf Nachfrage des kreuzer nicht beantworten. Aus Justizkreisen heißt es, dass der Mitangeklagte im Gegensatz zu B. geständig gewesen sei. B. stehen jetzt noch Rechtsmittel gegen das Urteil offen. Derweil könnte sich die lange Verfahrensdauer auch für andere Angeklagte strafmildernd auswirken.