Es gibt kaum Beratungsstellen für Sexarbeitende in Sachsen, die Politik stellt keine ausreichenden Mittel zur Verfügung. Das erschwert die Arbeit bestehender Beratungsstellen und den Ausstieg für Sexarbeitende. Der Text aus der Juni-Ausgabe des kreuzer.
Es ist ein bedeckter Tag in Dresden, Josie Weiss, die eigentlich anders heißt, sitzt auf einer Mauer im Großen Garten. Sie trägt einen schlichten karierten Mantel, hinter ihr stapfen Kinder auf Inlineskates über den Rasen. Josie wirkt etwas unsicher, hat eine hohe Stimme und ein ehrliches, fast kindliches Lachen. Ihre Stimme wird fester, als sie von ihrer Zeit in der Prostitution erzählt. Mit 17 manipulierte sie ihr damaliger Freund, den sie heute ihren Zuhälter nennt, derartig, dass sie mit Sex Geld für ihn verdiente. Dieses Gewaltverhältnis konnte Josie erst nach 14 Monaten durchbrechen. »Zum Glück habe ich den Ausstieg beim ersten Versuch geschafft«, erzählt Josie. »Ich war zum Teil drei Tage im Puff mit vier Stunden Schlaf pro Tag. Ich war mir sicher, dass mich die Prostitution umbringen wird.« Sie wollte schon früher aussteigen, aber fand keine Beratungsstelle: »In Sachsen ist es schwer, was zu finden. Überall. In Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen.«
Josie versuchte es bei KOBRAnet, einer Beratungsstelle für Opfer von Menschenhandel, die sachsenweit tätig ist. Dort konnte man ihr nicht helfen. »Das werfe ich ihnen auch nicht vor«, sagt die 23-Jährige, »die haben nur drei Mitarbeiter für ganz Sachsen.«
Nicht nur Menschen wie Josie, die in einer Zwangssituation stecken, brauchen die Beratungsstellen. Auch selbstbestimmte Sexarbeitende sind auf solche Angebote angewiesen. So wie Lydia aus Leipzig. Sie ist seit 17 Jahren in der Sexarbeit tätig und mag ihren Job. Vor Corona hat sie ihre Kundschaft in ihrer Arbeitswohnung im Leipziger Osten empfangen. Aber obwohl sich Lydia als privilegiert beschreibt, bemängelt auch sie zu wenige Beratungsangebote. In Thüringen gibt es beispielsweise keine einzige unabhängige Beratungsstelle für Sexarbeit. Lydia sagt, als sie damals in einer kleinen Stadt anfing, hätte sie gerne die Möglichkeit gehabt, sich an jemanden wenden zu können. Sexarbeit ist zwar nur in Städten ab 50.000 Einwohnern erlaubt – in Sachsen sind das Leipzig, Chemnitz, Dresden, Plauen, Zwickau und Görlitz –, doch sie findet auch in kleineren Orten statt, weiß Lydia.
Während der Pandemie richtete der Berufsverband für erotische und sexuelle Dienstleistungen einen Notfonds für Sexarbeitende mit finanziellen Schwierigkeiten ein, aber der wird in Ostdeutschland kaum beansprucht. Tamara Solidor, ehemalige Generalsekretärin des Verbands und selbst Sexarbeiterin, erklärt, dass das nicht daran liege, dass es hier keine Notsituation gebe: »Der Zugriff auf Informationen, wo und wie man sich finanzielle Unterstützung holen könnte, ist im Osten durch fehlende Vernetzungsangebote erschwert.« Das liege an der schlechten Beratungsstruktur. »Wir haben erst seit 2019 eine einzige Beratungsstelle für Sexarbeit in Leipzig, die mit zwei Ministellen ausgestattet ist. Das ist absurd.«
LEILA heißt diese Fachberatungsstelle, die bei der Aidshilfe Leipzig angesiedelt ist. LEILA ist als Modellprojekt angesetzt und muss von Jahr zu Jahr auf neue Finanzierung hoffen. Daher können die Sozialarbeiterinnen ihren Klientinnen nicht versichern, dass sie bleiben werden.
Dabei gibt es allein in Leipzig schätzungsweise zwischen 600 und 800 Sexarbeitende, die Stadt ist somit das Zentrum für Sexarbeit in Sachsen. Vor allem ist hier der Escort-Bereich sehr groß, da durch Messen hohe Nachfrage besteht. Wer wie arbeitet, ist dabei sehr unterschiedlich. Es gibt zum Beispiel Menschen, die täglich in Laufhäusern arbeiten, und Personen, die sich einmal im halben Jahr vor dem Jahresurlaub noch etwas verdienen wollen. Das Arbeitssystem ist sehr niedrigschwellig. Es braucht keine besonderen Fähigkeiten oder Deutschkenntnisse. Es gibt keine strikten Arbeitszeiten. In der Beratung von LEILA begegnet Linda Apsel, die dort eine der zwei Stellen als Sozialarbeiterin hat, vor allem älteren deutschen Frauen, die auf das Rentenalter zugehen, und jungen Frauen aus Ungarn und Rumänien. Das Verhältnis halte sich die Waage. Weil LEILA keine Gelder für Dolmetscherinnen erhält, stellt sie die Sprachbarriere vor große Probleme. Mehr als Personal- und Sachmittel gibt es nicht. »Von der Politik werden Entscheidungen an der Realität vorbei getroffen«, kritisiert Apsel. »Bestes Beispiel, dass wir keine Gelder für Sprachmittlung haben. Das heißt, sie haben nicht auf dem Schirm, dass wir so nicht arbeiten können.«
Jasmina Krauss vom Verein Sisters Leipzig sieht ebenfalls die Notwendigkeit von mehr Beratungsstellen. Der Verein setzt sich für das schwedische Modell ein, das aus drei Säulen besteht: Entkriminalisierung von Prostituierten, Kriminalisierung von Sexkäufern und Betreibern, Finanzierung von Ausstiegsprogrammen und Prävention. Viele politische und humanitäre Organisationen in Deutschland, darunter der Juristinnenbund, Amnesty International und die Deutsche Aidshilfe, positionieren sich gegen das schwedische Modell. Als Grund nennen sie unter anderem, dass das Modell in der Praxis auch Sexarbeiterinnen kriminalisiert und gefährdet, da sie ihre Arbeit nicht mehr auf legale Weise ausüben können. Trotz verhärteter Fronten sind sich Befürworterinnen und Gegnerinnen bei den kurzfristigen Forderungen aber einig. »Es braucht mehr Beratungsstellen, Ausstiegshilfen und Sensibilisierung von öffentlichen Ämtern«, fordert Krauss.
Juliane Meglin arbeitet als Sozialarbeiterin im Gesundheitsamt Leipzig. Sie räumt ein, dass sie »definitiv nicht alle
Anfragen, die uns erreichen, befriedigend abschließen. Vor allem, wenn es tatsächlich um Umstieg, Neuorientierung und auch um eine Zukunftsperspektive in Deutschland geht. Da stoßen wir schnell an viele Grenzen.« Meglin und ihre Kollegin Julia Goss arbeiten bei der Gesundheitsberatung, die nach dem Prostituiertenschutzgesetz verpflichtend ist. Sexarbeitende müssen sie regelmäßig durchführen, um sich im Ordnungsamt registrieren lassen zu können. Die beiden Sozialarbeiterinnen haben die alleinige Verantwortung für die Gesundheitssituation von Sexarbeitenden in Leipzig, können ihnen in Notfällen aber oft nur über Spenden helfen. 2019 führten Meglin und Goss jeweils mehr als 500 Pflichtberatungen und freiwillige Sozialberatungen aus. Einmal die Woche machen sie aufsuchende Arbeit, obwohl die nicht vorgeschrieben ist. Dass sie vom Gesundheitsamt Leipzig gemacht wird, ist ein Alleinstellungsmerkmal und dem Engagement der beiden Sozialarbeiterinnen zu verdanken, die schon in der Vergangenheit mit dem Bereich Sexarbeit zu tun hatten. Das ist nicht in allen Gesundheitsämtern so. »Das funktioniert nur, weil wir das Netzwerk schon mitgebracht haben«, sagt Meglin, »Es bleibt wenig Zeit für Netzwerkarbeit, für Arbeitskreise, für kollegiale Fallberatung.« Und Goss ergänzt: »Uns wird nichts an die Hand gegeben, was wir weiter anbieten können. Wir versuchen im Einzelnen, eine möglichst gute Lösung zu finden.« Der Zugang zu Sozialsystemen und Absicherung müsse erleichtert werden, findet Meglin.
Für einige Personen ohne Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt ist Sexarbeit die lukrativste Möglichkeit, Geld zu verdienen. Diese Gruppen haben oft keine Stimme in politischen Diskussionen. Politischen Aktivismus können sich nicht alle leisten. Durch die Stigmatisierung ihrer Berufsgruppe erleben Sexarbeitende oft Isolation und Vereinzelung. Gerade deshalb sind Beratungsstellen wichtig, da sie die essenziellen Schnittstellen zu prekären Situationen sind. Sie haben die Möglichkeit, auch Zwangssituationen aufzudecken. »Je mehr Beratungsstellen es gibt, desto mehr Augen gibt es auf die Sexarbeit«, appelliert Apsel. Dazu muss vor allem politisch etwas passieren.
Im aktuellen Doppelhaushalt sind für Fachberatungsstellen zur Sexarbeit in Sachsen pro Jahr lediglich 150.000 Euro geplant. Für Leipzig, Chemnitz und Dresden jeweils 50.000 Euro. Das sind nur drei der sechs Städte, in denen Sexarbeit offiziell erlaubt ist. 50.000 Euro reichen kaum für den Aufbau einer Beratungsstruktur. In Dresden wurde das Geld deshalb nicht einmal abgerufen. Kein Träger traute sich mit dem knappen Budget zu arbeiten. In Leipzig funktioniert die Arbeit nur durch die Aidshilfe als größerer Träger. Neben der personellen Aufstockung in Beratungsstellen, der Finanzierung von Sprachmittlung und niedrigschwelligen Netzwerkangeboten für verschiedene Zielgruppen sowie der Stärkung der aufsuchenden Arbeit muss sich auch die Kommunikation mit Sexarbeitenden ändern. Um das Stigma, das auf der Arbeitsgruppe lastet, abzubauen, könnten Sensibilisierungs-Workshops für öffentliche Ämter stattfinden.
Im Januar fand auf Antrag der Linksfraktion eine Anhörung im Sächsischen Landtag zum Thema Sexarbeit statt. Die Partei forderte mehr Mittel für die Beratung von Sexarbeitenden, schrittweise Öffnung der Prostitutionsstätten, sofortige
Coronahilfen und einen runden Tisch für Gespräche mit Expertinnen zu langfristigen Verbesserungen der Arbeits- und Lebensbedingungen von Sexarbeitenden. Dabei gehe es um die Gleichstellung der Sexarbeit mit anderen Berufen, so Tamara Solidor. Sarah Buddeberg, gleichstellungspolitische Sprecherin der Fraktion Die Linke, sieht das Problem darin, dass die Sexarbeit einerseits steuerrechtlich und arbeitsrechtlich wie andere Berufe behandelt wird, andererseits ihre gesetzlichen Regelungen an einer moralischen Debatte entlang getroffen werden. Die Vermittlung an den Arbeitsmarkt durch zusätzliche Programme sei unbedingt nötig: »Entweder sie haben eine Lücke im Lebenslauf, die sie nicht erklären können, oder sie sagen, dass sie in der Sexarbeit tätig waren, und werden dann wahrscheinlich nicht eingestellt.« Das könne nur durch ein gezieltes Vorgehen gegen Stigmatisierung geändert werden.
Lucie Hammecke, gleichstellungspolitische Sprecherin der Fraktion Die Grünen, wurde durch die Anhörung auf das Thema aufmerksam. Auch sie fordert eine bessere Beratungsstruktur in Sachsen. Das habe, laut Hammecke, fraktionsübergreifend den anwesenden Mitgliedern des Sozialausschusses die Augen geöffnet. Hammecke sieht den Sächsischen Landtag als Haushaltsgeber in der Verantwortung, die finanziellen Mittel für eine bessere Beratung zur Verfügung zu stellen. In den Verhandlungen zum Doppelhaushalt wurde im April der Antrag zwar abgelehnt. Dennoch will die Koalition jetzt mehr Geld im Haushalt für die gesundheitliche und soziale Beratung von Sexarbeitenden bereitstellen. »Das ist natürlich schön, aber wo kommt das Geld hin?«, kommentiert Tamara Solidor frustriert. »Es sind schlicht keine Strukturen da, weder in Großstädten wie Dresden und Chemnitz noch in ländlichen Gebieten.«