Im September wird ein neuer Bundestag gewählt. Bis dahin stellen wir die Leipziger Direktkandidatinnen und -kandidaten der verschiedenen Paretein vor. Heute: Die Grünen.
Von der Straße ins Parlament
Marie Müser kam von Legida-Gegendemos zu den Grünen
Es ist eine steile Karriere, die Marie Müser da anstrebt: Ihre Politisierung liegt erst wenige Jahre zurück – als sie noch in der Schule mit ihrer Klasse und ihrem Deutschlehrer gegen Legida demonstrierte. 2018 ging sie zur Grünen Jugend. Jetzt, drei Jahre später, kandidiert sie als Leipziger Direktkandidatin der Grünen für den Bundestag im Wahlkreis 152. »Ich konnte mir das einfach wahnsinnig gut vorstellen«, kommentiert sie Letzteres an einem Montagmorgen im Juli via Zoom. Die vergangenen Tage hat sie in Brüssel verbracht, wo sie einige Jahre zuvor ein Praktikum im EU-Parlament absolvierte. Dort hat sie auch ihre heutige Mentorin Anna Cavazzini kennengelernt, Grünen-Politikerin und Mitglied im Europäischen Parlament. »Ich finde es wichtig, dass junge Frauen für politische Ämter kandidieren. Parlamente sollten Querschnitte der Gesellschaft sein. Und junge Leute gehen Themen oft optimistischer an«, sagt Müser.
[caption id="attachment_129193" align="alignright" width="320"] Marie Müser, Foto: Christiane Gundlach[/caption]
Die politischen Erfahrungen der Leipzigerin kommen vor allem von der Straße. Sie ist Mitglied des Aktionsnetzwerks Leipzig nimmt Platz und war auch schon mit Fridays For Future demonstrieren. So bringt sie eine besondere Perspektive mit: »Weil ich eben nicht im klassischen Sinne mit Parteipolitik angefangen habe, sondern auf der Straße gegen rechtes Gedankengut, Rassismus und Antisemitismus demonstriert habe«, erklärt sie. Das kann ihr jedoch zum Nachteil im Wahlkampf werden, die meisten ihrer Gegenkandidaten und -kandidatinnen sind durch politische Mandate stadtbekannt und parteipolitisch erfahren. »Es gibt viele Kriterien, die eine Person qualifizieren. Erfahrung ist da nur ein, wenn auch nicht zu vernachlässigender, Baustein«, entgegnet Müser dem. »Es wird sicher nicht leicht. Ich möchte einen bunten, vielfältigen und breit aufgestellten Wahlkampf machen«, ergänzt sie. Breit aufgestellt, das heißt laut Müser, in allen Stadtteilen des Wahlkreises vertreten zu sein, verschiedene Formate zu nutzen und mit verschiedenen Gruppen beispielsweise der Grünen Jugend aufzutreten. Ihr Motto: »nahbar, nicht auf allen Ebenen professionalisiert, nicht zu viel inszeniert, authentisch«.
Die 23-Jährige studiert Politik und Wirtschaft an der Universität Leipzig. Dabei habe sie gelernt, dass es essenziell ist, sich in Parteien zu organisieren, um Anliegen durchzusetzen. »Ich habe dann alle Wahlprogramme der Parteien, die in Frage kamen, durchgearbeitet und Tabellen erstellt«, erinnert sie sich. Bei den Grünen habe sie die beste Verbindung von Klimaschutz und Sozialem gesehen – das sei neben der Außenpolitik ausschlaggebend gewesen. »Es war ein sehr rationaler Prozess«, sagt sie.
Wirtschaftspolitik, soziale Gerechtigkeit, Klimaschutz, Antifaschismus, Angleichung der Lebensverhältnisse im Land – die Liste von Müsers Kernthemen ist lang. Dabei schürt sie hohe Erwartungen: »Ich stehe für eine andere Wirtschafts- und Finanzpolitik«, deklarierte sie in ihrer Bewerbungsrede. Sie wolle das Steuer- und Abgabensystem reformieren, sei für eine Vermögensbesteuerung und ein anderes Hartz-IV-System. Besonders für den schnellen Ausbau der erneuerbaren Energien brauche es gute staatliche Rahmenbedingungen: »Wir kommen um eine Schuldenaufnahme nicht herum«, sagt Müser. Sozialpolitik möchte sie immer mitdenken. »Radikaler Klimaschutz« sei ihr wichtig, er dürfe aber nicht gegen das Thema soziale Gerechtigkeit ausgespielt werden. Der Kritik von Fridays For Future und einer Minderheit in der Partei, die Klimaschutzmaßnahmen im Programm seien nicht radikal genug, begegnet Müser realpolitischer, als man es hinsichtlich ihres Alters und ihrer politischen Herkunft als Demonstrantin vermutet hätte. Es gebe einen Unterschied zwischen sozialen Bewegungen und Parteipolitik, erklärt sie, auch wenn ihr die Verbindung und Unterstützung lokaler Bündnisse wichtig sei. »Eine Partei hat die Verantwortung, verschiedene Interessen wahrzunehmen und Programmatik in Regierungshandeln zu übersetzen«, sagt sie. Ein noch höherer CO2-Preis, wie ihn Fridays For Future fordert, könnte soziale Härten produzieren, deswegen setze man zusätzlich auf andere Instrumente, um die Pariser Klimaziele zu erreichen. Müser selbst hätte sich an der einen oder anderen Stelle ebenfalls Veränderungen gewünscht, welche das sind, nennt sie nicht. »Ich stehe in weiten Teilen hinter dem Parteiprogramm«, sagt sie und findet, die Partei habe einen guten Konsens unterschiedlicher Einstellungen erreicht. Fakt ist: Wer Marie Müser wählt, wählt trotz ihres jungen Alters und Straßenerfahrung keine Aktivistin, sondern eine Grüne durch und durch.
SOPHIE GOLDAU
Schnell viel gestalten
Paula Piechotta findet die Grünen »am wenigsten schlimm«
Es regnet in Strömen, als der kreuzer Paula Piechotta zum Gespräch in der Südvorstadt trifft. Anders als das Wetter könnte Piechotta strahlende Stimmung verbreiten. Sie tritt nicht nur für die Grünen als Direktkandidatin im Wahlkreis 153 – Leipzig II an, sondern führt die sächsischen Grünen auch als erste Listenkandidaten in die Wahl im September. Davon will sie aber partout nichts hören und weist auf die volatile Situation hin, die der Wahlkampf bisher gehabt hat. »Ich finde, das gehört sich nicht, vor dem Wahltag zu sagen, dass das alles sicher ist.« Deswegen habe sie ihre Stelle als Radiologin in der Uniklinik auch noch nicht gekündigt, sondern nur Urlaub für die Wahlkampfvorbereitung genommen.
Geboren wurde sie 1986 in Gera und hat die Wendewirren noch ein Stück weit selbst miterlebt. Ihre Eltern durften in der DDR nicht studieren, was sie wollten, und wandten sich schließlich der Theologie zu. Später hatte ihr Vater Berufsverbot. Mit dem Fall der Mauer ging die Familie in den Westen, kam aber 1991 wieder zurück nach Thüringen. Von Anfang an wurde Paula Piechotta so in einem Milieu groß, das nicht unpolitisch war. Nach dem Abi entschied sie sich, in Jena Medizin zu studieren, merkte aber schon damals, dass man für Strukturveränderungen im Gesundheitswesen »auch primär irgendwann durch Parteien laufen« muss. »Ich habe mir dann in Jena die Partei ausgesucht, die ich am wenigsten schlimm fand«, erzählt sie, denn bevor sie sich in der Grünen Jugend engagierte, schaute sie sich auch bei den Jusos und bei Solid um.
[caption id="attachment_129194" align="alignright" width="320"] Paula Piechotta, Foto: Christiane Gundlach[/caption]
Damals sei der Aufstieg als Frau bei den Grünen im Osten noch schneller gegangen, weil sich nicht so viele Frauen engagiert hätten wie heute. »Du kannst sehr schnell viel gestalten, wenn du willst.« So kam Piechotta rasch in den Thüringer Landesvorstand und verhandelte bereits 2014 die erste rot-rot-grüne Landesregierung mit, wobei sie eigene Akzente beispielsweise zur Palliativmedizin einbringen konnte. »Das sind dann tatsächlich die Momente, wo du das Gefühl hast, das ganze politische Engagement lohnt sich«, sagt sie.
Nach einem kurzen Zwischenhalt in Berlin folgte sie ihrem Bauchgefühl und ging doch nach Leipzig. Hier wurde sie zur Fachärztin und betrieb weiter Politik. Auch in Sachsen verhandelte sie 2017 als Expertin für die Themen Gesundheit, Pflege und Drogen den Vertrag für die Koalition aus CDU, SPD und Grünen. Seit drei Jahren sitzt sie nun im Grünen-Kreisvorstand für Leipzig. Dass sie lokal kein Amt, beispielsweise im Stadtrat, anstrebt, liege einfach an der Arbeitsteilung ihrer Partei und daran, dass Gesundheitsthemen vor allem auf Bundesebene entschieden würden: »Du willst natürlich dahin gehen, wo das Feld, in das du dich reingearbeitet hast, primär entschieden wird.«
Neben Klimapolitik, einem guten Gesundheitssystem, das für Menge anstatt für Qualität bezahlt, und einem stärkeren Fokus der Bundespolitik auf die neuen Länder wirbt Piechotta für eine Politik »faktenbasierter Entscheidungen«. Sei das aber nicht Grundpfeiler für politisches Wirken? Sie entgegnet, dass man gerade in der Corona-Pandemie gemerkt habe, dass Politik, die faktenbasierte Entscheidungen treffe, keine Voraussetzung sei. »Das war auch vorher in Sachsen sichtbar, mit Corona kann das aber niemand mehr von der Hand weisen.« Essenziell sei nicht, dass Wissenschaft entscheide, sondern dass wissenschaftliche Daten immer eine relevante Grundlage für politische Entscheidungen sein müssen. Sächsische Landräte hätten in dem Zusammenhang während der Pandemie kein gutes Beispiel abgegeben, wenn sie notwendige Entscheidungen nicht getroffen hätten, nur weil die ihnen nicht passten. Das sei bei Corona und dem Impfen so. »Wir sehen, was wir für enorme Probleme haben, wenn wir Verschwörungstheoretiker:innen und Reichsbürger:innen nicht konkret entgegnen.« Beim Klimawandel sei das genauso.
Wie steht sie zur Möglichkeit, im Herbst dennoch mit der CDU in einer Regierung zu landen? »Momentan ist es völlig unklar, was im Herbst rauskommt.« Sie hätten das 2017 im Landtagswahlkampf schon gesagt: »Natürlich haben wir keinen Bock darauf, mit der CDU zu regieren.« Vor allem nach den vergangenen Wochen und den Angriffen auf Annalena Baerbock wegen ihres unkorrekten Lebenslaufes und Plagiatsvorwürfen in ihrem neuen Buch sei das so. Da hätte sich Piechotta mehr Gelassenheit im Umgang mit diesen Themen gewünscht, vor allem weil die CDU seit Wochen den Eindruck vermittle, dass sie Angst hat, das Kanzleramt auf Jahrzehnte zu verlieren, wenn sie die kommende Wahl nicht gewinnt. Piechotta ist sich sicher, dass die Geschäftsstelle der Grünen in Berlin daraus gelernt habe und sich wieder verstärkt auf eigene Inhalte konzentriere. Denn dies sagt sie auch klar: »Was an Politik so oft nervt, ist, dass du dich oft nicht dafür entscheiden kannst, was du richtig geil findest.« Aber es gehe am Ende darum, was die am wenigsten schlimme Variante ist.
EDGAR LOPEZ