Im September finden in ganz Deutschland 50 Leseclubs in elf Städten, auch in Leipzig, statt: Menschen lesen das gleiche Buch und treffen sich gemeinsam mit dem Autor oder der Autorin zum Austausch. Eigentlich sollte das schon im Frühjahr passieren, damals sprach der kreuzer mit Elisabeth Jaspersen und Dorian Steinhoff über ihre Idee, die wegen des Corona-Virus nun auf den Herbst verschoben wurde.
kreuzer: Ist das Leseclubfestival eine Pandemie-Geburt, oder hatten Sie das Konzept und die Idee schon vorher, und alles nur an die neuen Bedingungen angepasst?
Dorian Steinhoff: Die Idee stammt ursprünglich aus den Niederlanden. 2013 fand in Amsterdam das erste Leseclubfestival statt, von dem ich weiß. Organisiert wurde diese Premiere vom Verlag Das Mag. In den Folgejahren machte das Format unter dem Titel Das Mag Festival Stationen in Antwerpen, Gent und London. Im Rahmen des Gastlandauftritts von Flandern und den Niederlanden auf der Frankfurter Buchmesse 2016 kam das Leseclubfestival dann als Kooperation von Das Mag und dem Hamburger Mairisch Verlag das erste Mal nach Deutschland. Das Konzept gab es also schon weit vor der Pandemie. Es als Verbund von 50 Leseclubs in mehr als 10 Städten gleichzeitig zu organisieren ist allerdings neu und macht das Leseclubfestival wahrscheinlich weltweit zum größten Event seiner Art. Ich war schon seit 2016 angetan von der Idee. Im Herbst 2018 begann ich daher die Planungen zur ersten Ausgabe des Formats in Köln. Erfolgreiche Premiere feierte das Leseclubfestival Köln im Januar 2020.
Elisabeth Jaspersen: Im letzten Sommer haben wir uns dann gemeinsam an die Planungen für eine bundesweite Ausgabe gemacht. Wir mussten dabei gar nicht wirklich viel anpassen. Es treffen sich einfach 20 Leute, die vorher alle das gleiche Buch gelesen haben, mit der jeweiligen Autorin — und sprechen über Text. Dieses Jahr müssen sie dabei etwas weiter voneinander entfernt sitzen, und natürlich auch auf ein paar andere Sachen achten, aber im Wesentlichen mussten wir nichts ändern, und das ist der große Vorteil an dem Format. Es ermöglicht Begegnungen in einer Zeit, in der vieles andere noch nicht wieder geht, und muss dabei kein Substitut sein.
kreuzer: Buchclubs sind seit Pandemiezeiten auf den sozialen Medien wieder größer geworden: Schauspielerinnen lassen sich mit aktuellen Büchern fotografieren und sprechen dann darüber mit anderen, dabei werden sie von ihren Followern beobachtet. Ist das eine neue Lesekultur mit Zukunft oder muss man das kritisch sehen?
Jaspersen: Ich denke, man muss differenzieren. Bei dem, was Sie beschreiben, geht es natürlich um die Mehrung des Social-Media-Kapitals schlechthin: Aufmerksamkeit. Zugleich beobachte ich auch, dass die Userinnen das Angebot durchaus annehmen, also die Empfehlungen aufgreifen, die Bücher lesen, um sich dann mit anderen online darüber auszutauschen. Natürlich wird auch das ausgestellt und inszeniert, aber mit dem Bewusstsein aller Beteiligten über diese Form der Fiktionalisierung eigenen Erlebens. Auf jeden Fall ist dabei auch nicht von der Hand zu weisen, dass die digitale Auseinandersetzung durchaus mit der Nachfrage von Lesungen und Live-Literatur-Veranstaltungen einhergeht.
Steinhoff: Es fällt mir schwer zu kritisieren, wenn online fürs Lesen geworben wird, während wir wissen, dass das Buch gerade bei jungen Leuten jede Aufmerksamkeit gebrauchen kann. Dass diese Inszenierung vermehrt auf Social Media stattfindet, ist unbedingt zu begrüßen. Eine Kulturpraxis, für die kein digitales Kommunikationsforum existiert, wird den medialen Strukturwandel nicht zum eigenen Vorteil durchleben.
kreuzer: Für alle, die noch nie ein Buch gelesen und sich mit anderen darüber ausgetauscht haben: Was senkt die Hemmschwelle, wie gehe ich vor?
Jaspersen: Es ist wie beim Essen, man fragt sich, hat mir das geschmeckt? Was war lecker, und was nicht? Warum fand ich das gut, und warum nicht? Das Schöne am gemeinsamen Nachdenken über diese Fragen ist, dass man viel weiter kommt als alleine und bei der Formulierung eigener Geschmacksurteile von den Einschätzungen der anderen profitiert.
kreuzer: Warum müssen wir über Bücher sprechen, warum sollte das Lesen nicht nur eine Beschäftigung im stillen Kämmerlein sein?
Steinhoff: Der Diskussion rund um das Ende von Game Of Thrones konnten sich nicht mal diejenigen entziehen, die nie eine Folge der Serie gesehen hatten. Dagegen ist ein Markt, der ein jahrhundertealtes Angebot gepaart mit 80.000 Neuerscheinungen pro Jahr umfasst, derartig fragmentiert, dass ein Austausch über Gelesenes mit anderen enorm schwierig ist. Wer hat denn gerade schon das Gleiche gelesen wie ich? Die große Medienvielfalt tut ihr Übriges. Zugleich besteht aber ein ungetrübtes Bedürfnis nach der Fortsetzung des Gesprächs, das man beim Lesen mit einem Text begonnen hat. Dieser Teilhabewunsch, also das Begehren, gemachte Erfahrungen mit anderen zu teilen und an den Erfahrungen von anderen teilzunehmen, ist immanent menschlich.