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Kultur

Dem Tod ein Schnippchen schlagen

In »Lieben« sucht ein Autor nach einem guten Ende

  Dem Tod ein Schnippchen schlagen | In »Lieben« sucht ein Autor nach einem guten Ende

Unzählige Bücher überfluten den Markt. Linn Penelope Micklitz und Josef Braun helfen einmal wöchentlich auf »kreuzer online« bei der Auswahl. In dieser Woche folgt Literaturredakteurin Linn Penelope Micklitz dem Erzähler in Tomas Espedals letztem Buch seines zehnbändigen autofiktionalen Projekts.

Neun Bücher lang versuchte der norwegische Schriftsteller Tomas Espedal die reine Essenz des Lebens festzuhalten. Er schrieb in »Das Jahr« von der allumfassenden Liebe zu einer Frau, veröffentlichte autofiktionale Erzählungen und Romane, Briefe, Tagebücher zu einer einfachen, aber in ihrer Schlichtheit unmittelbaren, ja fast rohen Lebendigkeit. Es ist interessant, welche Gestalt ein solches Bestreben annehmen kann: Während Kollege Knausgard nicht selten knapp tausendseitige Wälzer verfasst, manisch seinen Alltag dokumentierend, um das, was wir Leben nennen, zu begreifen, schnitzt Espedal so lange herum, bis alle Kleidung, alles Fett beiseite geschafft ist und ein roh schlagendes Herz zum Vorschein kommt.

Lieben, Cover: Matthes & Seitz Verlag
Lieben (Matthes & Seitz Verlag)

Das letzte Buch dieses Experiments ist schmal, leicht, es hält nichts mehr fest, es handelt vom Loslassen. »Lieben« beschreibt den Versuch des guten Todes. Ein Autor will den Zeitpunkt und die Art seines Sterbens selbst wählen. Ein Jahr gibt er sich noch, dann macht er sich auf den Weg.

»Ich sucht nach einem Ort zum Sterben.« Es ist aus vielen Gründen eine außergewöhnliche Perspektive, die Espedal uns einnehmen lässt: Ein gesunder Mann in den Fünfzigern will sterben, weil er das Leben liebt. Er verwendet das Personalpronomen Ich wie einen Namen, der Text ist ansonsten aber in der dritten Person verfasst. Eine Nähe entsteht, die von einer scheinbar unüberbrückbaren Distanz durchzogen ist, wie die Nähe des Autors zu seinem selbstgewählten Tod. »Ich wollte spazieren gehen, er wollte den Tag einatmen mit all dessen Schwere und Schönheit.«

Wie immer begibt sich Espedal auf seine existentielle Reise vor allem gehend, Zug fahrend, berauscht. Bis auf ihr Skelett sind die Sätze abgeschmirgelt, eingekocht. Und wie stets steckt darin alles, was man über das Leben nie wissen wollte — ein wunderschöner Schrecken, eine das Leben feiernde Enttäuschung.

Tomas Espedal. Lieben. Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Berlin: Matthes & Seitz 2021. 118 S., 18 €

LINN PENELOPE MICKLITZ


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