»Sinnlos und kontraproduktiv«, »kultureller Totalausfall«, »wir sind verzweifelt«: Wer sich in der Livemusikbranche umhört, vernimmt überall ähnliche Töne. Die neue sächsische Corona-Schutzverordnung, die seit Montag gilt, macht für sie ein Arbeiten unmöglich. Dabei ist die Branche ohnehin schon besonders von Einschränkungen, Ausfällen und Schließungen betroffen gewesen. »Es fühlt sich an wie ein Betonklotz an den Füßen und der finale Stoß ins Wasser«, bringt Jörg Niebuhr das Gefühl auf den Punkt. Die ganze Branche sei von der sächsischen Regierung einfach übergangen worden, so der Leipziger DJ, Konzert- und Partyveranstalter. Und das auch noch ohne jede Vorwarnung.
»Die Politik verständigte sich mit der Branche ganz klar auf ein 2G-Model«, sagt Niebuhr. »So fingen wir an zu planen, um im November wieder hochzufahren, trotz der schwierigen Impfquote und den zu erwartenden Publikumsausfällen. Um wenige Wochen später den nächsten Hammer auf den Kopf zu bekommen, dass genau diese 2G-Veranstaltungen so nicht stattfinden dürfen.« Das Problem sind die in der Verordnung enthaltene Masken- und Abstandspflicht, erklärt auch Felix Buchta, Sprecher der Initiative Live in Sachsen, ein Netzwerk, das Lobbyarbeit für die Branche leistet. »Mit den Auflagen wird Kulturerleben unmöglich.« MitMasken lasse es sich schwerlich tanzen und die Abstandspflicht reduziere die Auslastung nicht auf die angegebenen 50 Prozent, sondern viel drastischer. Das mache Veranstaltungen absolut unrentabel. »Faktisch hat man uns ein Berufsverbot erteilt«, sagt Buchta. Das sieht auch Henny Völzke vom Verband der Leipziger Clubs und Live-Musikspielstätten Live-Kombinat. »Das ist für unsere Branche der Lockdown, das hätte die Politik auch klar so benennen müssen. Das wird nur nicht so genannt, damit man uns nicht helfen muss.« Ärgerlich sei zudem, dass die Regel nicht eindeutig formuliert ist, so dass sie selbst die Gesundheitsämter verschieden auslegen. Veranstalter könnten so unbeabsichtigt Rechtsbruch begehen.
Besonders ärgert alle drei, dass es keinerlei Gespräche gab, keine Abstimmung oder ein Austausch mit ihnen seitens der Politik erfolgte. Die Veranstalter hätten vieles ausprobiert, um die Gesundheit ihrer Gäste nicht zu gefährden, viele haben freiwillig schon 2G eingeführt oder sich an wissenschaftlich begleiteten Pilotprojekten beteiligt. »Im Objekt klein A in Dresden hatten wir 2Gplus, also haben noch zusätzlich getestet«, versichert Felix Buchta. »Hier ist kein einziger Corona-Fall vom Gesundheitsamt gemeldet worden.« Darüber ginge die jetzige Entscheidung einfach hinweg. Das seien Kulturentzug und ein Schlag ins Gesicht des Publikums und damit der Geimpften, die nichts für den impfverweigernden Teil der Bevölkerung könnten.
Damit stehen wieder Existenzen auf dem Spiel, Mitarbeitenden muss gekündigt werden. »Eine Absage bedeutet aktive Verluste der investierten Gelder: Hotelkosten, Werbekosten, Bürokosten und verbrauchte Arbeitszeit sowie Verdienstausfall«, sagt Jörg Niebuhr. »Die Branche fing gerade erst wieder an, den ersten Atemzug nach Luft zu schnappen.« Henny Völzke fragt sich: »Warum werden wir für andere bestraft?« Weil der faktische Lockdown so plötzlich kam, während die Politik vor wenigen Tagen noch signalisierte, die Pandemie sei eigentlich beendet, sei die Branche nun komplett unvorbereitet getroffen worden. »Das ist noch einmal ein ganz anderes Level.« Ausfallhilfen gebe es nicht mehr, neue Kredite zu bekommen sei auch unwahrscheinlich, denn viele Unternehmen hätten bereits solche in Anspruch nehmen gemusst. »Ich befürchte, dass jetzt die große Insolvenzwelle in der Live-Branche anrollt«, sagt Völzke. Ein neuerliches Schließen würden viele nicht mehr verkraften, auch psychisch nicht – zumal kein Zeithorizont in Sicht ist. Das wollen die Branchenvertreter nicht hinnehmen. Stellvertretend haben die Leipziger Distillery und das Dresdner Objekt klein A Eilklage gegen das faktische Berufsverbot eingereicht. In wenigen Wochen, so hoffen sie, wird das Gericht entscheiden.
TOBIAS PRÜWER