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Kultur

Puzzleteil der Geschichte

Am Mittwoch endete im Auktionshaus Christie's die Versteigerung für eine Carl Spitzweg Zeichnung. Sie befand sich einst in Leipzig und erzählt viel über deutsche Geschichte.

  Puzzleteil der Geschichte | Am Mittwoch endete im Auktionshaus Christie's die Versteigerung für eine Carl Spitzweg Zeichnung. Sie befand sich einst in Leipzig und erzählt viel über deutsche Geschichte.

Eine junge Frau spielt Klavier. Daneben steht ein Mann und spielt Querflöte. Sein Schattenumriss an der Wand ähnelt einem Dämon mit Ziegenbart und Hörnern. Hinter der Frau an der Wand ist die Anstandsdame mit einem Buch in der Hand eingeschlummert. Es handelt sich um eine etwa 1840 entstandene Feder-Bleistift-Zeichnung von Carl Spitzweg – heute scheint allerdings die Rückseite um einiges interessanter. Neben dem Künstlernamen ist hier notiert: »Aus der Sammlung Geh. Rat Hinrichsen Leipzig«, sowie eine Marke des Leipziger Rahmenherstellers.

Lost Art

Die Ansicht der Rückseite kann auf der Lost Art-Datenbank vom Zentrum für Kulturgutverluste in Magdeburg eingesehen werden. Ausgehend von der im Dezember 1998 abgeschlossenen Washingtoner Erklärung zur Restituierung von beschlagnahmten Kunstwerken sammelt die Datenbank Gesuche und Funde von verloren geglaubten Kunstwerken. Der Schwerpunkt liegt auf verfolgungsbedingten Entzug von Kunstwerken insbesondere von jüdischen Eigentümerinnen. Die Spitzweg-Zeichnung trägt die Nummer 477912. Gefunden wurde sie im Februar 2012 zusammen mit über eintausend anderen Kunstwerken als sogenannter Schwabinger Fund im Besitz von Cornelius Gurlitt.

Lebenslinien

Der ehemalige Besitzer Henri Hinrichsen erwarb die Zeichnung auf einer Auktion 1908 in München. Zu der Zeit war er der Besitzer des Leipziger Musikverlags C. F. Peters mit Sitz in der Talstraße 10. Zuvor gehörte der Verlag seinem Onkel Max Abraham. Dieser schenkte dem Museum der bildenden Künste die Skulptur »Kassandra« von Max Klinger und etablierte die Musikbibliothek Peters. Auch Hinrichsen engagierte sich für die Stadtgesellschaft und initiierte die Hochschule für Frauen, die heutige Henriette-Goldschmidt-Schule, stiftete die Musikinstrumentensammlung für die Universität und arbeitete im Kunstverein Leipzig mit. Er war Mitglied im Bibliophilen-Abend und lieh beispielsweise 1914 Kunstwerke für die Museumsausstellung »Alte Meister aus Leipziger Privatbesitz« wie auch die Familien Brockhaus, Seemann oder Speck von Sternburg.

Ab 1933 drängten die Nationalsozialisten Hinrichsen, der Jude war, zuerst schleichend, dann immer offener aus den öffentlichen Ämtern. In der Pogromnacht vom 9. zum 10. November 1938 wurde das Haus in der Talstraße 10 überfallen, Noten von Mendelsohn-Bartholdy verbrannt, Henri Hinrichsen kam in Schutzhaft. Mit den nachfolgenden Gesetzen zur »Arisierung« jüdischen Besitzes gelangte die Kunstsammlung, die zehn Gemälde sowie 490 Zeichnungen und Graphiken umfasste, auf Anordnung der Oberfinanzbehörde im Sommer 1939 zur treuhänderischen Verwaltung in das Museum der bildenden Künste. Die Angst schien groß, dass Hinrichsen die Sammlung ins Ausland bringen wollte. Neben einigen Werken, die in den Museumsbestand übergingen, erlaubte die Oberfinanzbehörde dem Kunsthändler Hildebrand Gurlitt im Januar 1940, einige Arbeiten zu kaufen, darunter die Spitzweg-Zeichnung. Die Museumsmitarbeiterin Hildegard Heyne beschrieb im Brief an Stadtdirektor Seidel die konkrete Situation, erbat die Freigabe der »treuhänderisch übernommenen Bilder von Hinrichsen« und schilderte zudem, dass Gurlitt und sie zum Verkauf auch Hinrichsen im Museum trafen. Gurlitt zahlte 300 Reichsmark für die Zeichnung. Der Betrag ging auf das Sperrkonto von Hinrichsen bei der Deutschen Bank, auf das er keinen Zugriff hatte. Wenige Tage später flohen Henri und seine Frau Martha Hinrichsen nach Brüssel. Martha Hinrichsen starb dort, weil sie als Jüdin kein für sie überlebenswichtiges Insulin erhielt. Henri Hinrichsen wurde 1942 in Auschwitz ermordet.

Das Erbe

Nach dem Fund der Zeichnung vor fast zehn Jahren wurde deren Restituierung empfohlen. Zu Beginn dieses Jahres erhielten die Nachkommen von Hinrichsen die Zeichnung zurück. Sie hatten bereits in den sechziger Jahren bei den Wiedergutmachungsämtern in Berlin einen Antrag gestellt, um den Verbleib einzelner Werke der ehemaligen Kunstsammlung zu erfahren. In dem Zusammenhang hatte Gurlitts Witwe auf Nachfrage die verbrannten Geschäftsbücher aufgeführt, die es nicht erlaubten, Auskunft zu einzelnen Arbeiten zu geben. Dass die Zeichnung in ihrer Wohnung hing, musste ihr beim Antwortschreiben entgangen sein.

Die Rückgabe veranlasste Kulturstaatsministerin Monika Grütters zu einer Pressemitteilung, denn die Spitzweg-Zeichnung ist das bislang letzte Kunstwerk aus dem Gurlitt-Bestand, das bisher eindeutig als Raubkunst identifiziert werden konnte. »Hinter jedem dieser Bilder steht ein menschliches, tragisches Schicksal wie das des Auschwitz-Opfers Dr. Henri Hinrichsen. Wir können dieses schwere Leid nicht wiedergutmachen. Aber durch die Aufarbeitung des NS-Kunstraubs versuchen wir, ein Stück weit zu historischer Gerechtigkeit beizutragen und unserer moralischen Verantwortung gerecht zu werden«, heißt es in der Meldung. Allein aus dem Schwabinger Fund steht bei über 1.000 Werken noch die genaue Herkunft aus.

BRITT SCHLEHAHN


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