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Stadtleben

So geht sächsisch

Warum die Sachsen so seltsam sind

  So geht sächsisch | Warum die Sachsen so seltsam sind

»Widerstand!«, »Lügenpresse!«, »Volksfahrräder!«: Warum schon wieder Sachsen? Weshalb ist der Freistaat vorn mit dabei auf dem Protestatlas gegen die Corona-Maßnahmen? Versuch einer Analyse jenseits des Sachsen-Bashings

»Hüte dich vor Sturm und Wind – und Sachsen, die in Rage sind!« Mangelndes Selbstbewusstsein klingt nicht im Spruch an, den man auf T-Shirts und Tassen kaufen kann. Vielerorts verkünden in Schrebergärten gehisste Sachsenflaggen besonderes Sendungsbewusstsein. »So geht sächsisch.« lautet unironisch der offizielle Marketingslogan des Freistaats. Mitunter hämmert unterschwellige Aggressivität hinter stolzgeschwellter Brust mit: »S gladdschd glei!«

»Sächsischen Exzeptionalismus« nennen Politikwissenschaftler diese seltsame Überhöhung, die unter Freistaatmenschen wirksam ist. Dieser Irrglaube von der eigenen Einzigartigkeit hebt die Sachsen von anderen Ostdeutschen ab. Und er führt regelmäßig zur Empörung, wenn der Rest der Welt diese nicht gebührend würdigt. Daraus entspringt eine Mischung aus Opportunismus und Renitenz, die nur einen Anlass braucht, um sich zu entzünden. Ob es nun um Geflüchtete oder eine Impfung geht, ob Pegida, die AfD oder die Freien Sachsen zur Zusammenkunft unter der Standarte rufen, ist dabei egal. Was  von außen wie eine Trotzreaktion wirkt, ist einer der Gründe, warum immer wieder Teile der Sachsen vorn mitmarschieren, wenn sich wieder ein vermeintlicher »Volkswille« artikuliert. Als weitere Ursachen dafür lassen sich eine Zeit andauernder historischer Kränkungen und 30 Jahre CDU-Regierung ausmachen, die demokratische Prozesse vor allem stillgestellt statt lebendig gemacht hat, einen blind machenden Extremismusbegriff pflegt und mit Anerkennung statt Zurückweisung auf rechte Anmaßungen reagiert.

Ja, es gab und gibt Gründe, unzufrieden zu sein, auch und gerade in Ostdeutschland. Natürlich ging es bei der Wiedervereinigung vor allem um wirtschaftliche Entwicklung, nicht das Wohl des einzelnen Menschen oder von Gruppen. Dass viele gerade jenseits der ehemaligen Grenze Lebende das nicht wahrnehmen wollten, muss man weiterhin kritisieren. Und wenn Medien mit Sitz in den alten Bundesländern nur über Ereignisse zwischen Kap Arkona und Fichtelberg berichten, wenn es irgendetwas Skurriles gibt oder mit Neonazis zu tun hat, zeigt das exotisierende Effekte: Der Ostdeutsche als der andere Deutsche. Zu kritisieren ist aber eben auch dieses (Selbst-)Bild der gebeutelten Ossis, die dann wie eine aus einem Stück bestehende Einheit erscheinen, als würden ein paar biografische oder geografische Übereinstimmungen gemeinsame Charaktereigenschaften herausbilden und Identitäten stiften. Seit einiger Zeit wird die Ost-West-Debatte differenzierter geführt, manchmal auch schon gar nicht mehr in Himmelsrichtungen unterschieden. Sie soll an anderer Stelle weitergehen, denn dass neben ostdeutschem Unbehagen in Sachsen noch andere Faktoren die Populismusanfälligkeit erhöhen, geht im innerdeutschen Meinungsstreit unter. Das zeigt sich in der Spannung, wenn drei Viertel der Sachsen sagen, ihnen gehe es besser als allen anderen im Osten, aber die Hälfte von ihnen bejaht, als Ostdeutscher »Bürger zweiter Klasse« zu sein. Wie nicht jeder wirtschaftlich ärmere, ängstliche oder unzufriedene Mensch automatisch Neonazi wird, so heißt das natürlich nicht, dass jeder und jede in Sachsen für rechten Populismus anfällig ist. Es ist vielmehr ein gewisses gesellschaftliches Klima, das Nationalismus, Menschenfeindlichkeit und rechten Populismus befeuert. Dieses muss man nüchtern zur Kenntnis nehmen und verstehen, um es in einem langfristigen Prozess zu verändern. Und das zu benennen, ist gerade kein pauschales Sachsen-Bashing.

Rechter Magnet

Dieses Klima entsteht nicht aus dem Nichts. Sachsen war insgesamt immer schon etwas konservativer, auch wenn es hier immer auch rote Zentren gab. Anfang des 20. Jahrhunderts grassierte der politische Antisemitismus im Königreich Sachsen besonders heftig. Hier gab es eine aktive völkische Bewegung, die Bücherverbrennungen fanden hier eher als anderswo statt. Ebenfalls sehr früh war die NSDAP erfolgreich: Bei der Landtagswahl 1929 konnte sie in Sachsen ihren Stimmenanteil verdreifachen – bevor die Weltwirtschaftskrise die allgemeine politische Stimmung beeinflusste. Ein Faktor für den Konservatismus ist religiöser Natur. Dass in der Evangelischen Landeskirche teilweise   reaktionäre Ansichten, etwa die Akzeptanz sexueller Orientierungen betreffend, kursieren, ist kein Geheimnis. Vom »sächsischen Bible Belt« zu sprechen, wie manche Kommentatoren meinen, ist gewiss übertrieben. Aber es finden sich im Erzgebirge und in Ostsachsen gehäuft bibeltreue evangelikale Christen. Das muss nicht problematisch sein, aber Evangelikale neigen zum dualistischen Weltbild, aus welchem sich leichter Feindbildkonstruktionen speisen können. Dass Querdenken außerhalb Sachsens besonders in baden-württembergischen Evangelikalen-Hotspots Zuspruch findet, untermauert die Annahme. Seit 2010 organisieren christliche Fundamentalistinnen in Annaberg-Buchholz jährlich eine Demonstration gegen das Abtreibungsrecht, die vereinzelte Unterstützung aus AfD und CDU fand. Klare Abgrenzung gegen ein fundamentalistisches und antipluralistisches Gesellschaftsverständnis findet auf lokaler Ebene nicht statt.

Dieses besondere Klima haben lange schon rechte Akteure erkannt. Nicht grundlos sind viele Kader und Ex-Kader hierhergezogen, von denen nur kurz aufgezählt werden sollen: Tatjana Festerling (Ex-Pegida), Jens Mair und Carsten Hütter (AfD), Mario Matthes (Dritter Weg), Christian Fischer (Zusammenrücken in Mitteldeutschland) – damit ist Sachsen nicht allein unter ostdeutschen Bundesländern, aber besonders attraktiv. Das MDR-Magazin »Exakt« spricht in einer Reportage von »rechter Landnahme«. Die Szene konnte sich hier in den letzten Jahrzehnten relativ ungestört entwickeln und Teile zu regelrechten Nazihochburgen ausbauen. Das Kulturbüro Sachsen ordnet fast achtzig Immobilien der rechten Szene zu. Dass die Polizei erstmals aus einer Demonstration gegen Coronamaßnahmen heraus in Bennewitz bei Wurzen massiv angegriffen wurde, ist kein Zufall. Dort existiert seit Jahrzehnten eine starke Naziszene. Auch die vielen Reaktivierten, also jene, die nach vielen Jahren wieder auf die Straße gehen, verdeutlichen das. Es sind bekannte Gesichter aus den Neunzigern darunter. Sie hatten sich zwischenzeitlich – aus familiären und beruflichen Motiven – aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Es sind also keinesfalls alles neue Gestalten und plötzlich Unzufriedene, die da auflaufen. Solche Kontinuität wird auch an den aktiven Köpfen deutlich. Die Gruppe Freie Sachsen, die maßgeblich zu den Demonstrationen gegen die Pandemiemaßnahmen mobilisiert, führt Martin Kohlmann an, Chef von Pro Chemnitz und bekannt von den Ereignissen in Chemnitz 2018. Sein Kompagnon Stefan Hartung ist NPD-Politiker und organisierte im Winter 2013/14 Demonstrationen gegen eine Flüchtlingsunterkunft in Schneeberg. Als Fernziel erklärte Kohlmann jüngst der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: »Wir wollen grundsätzlich etwas anderes, als nur wieder in die Kneipe oder die Läden zu dürfen.« Sachsen solle Deutschland verlassen und wieder zur Monarchie werden: »Das Maß an Freiheit war im Königreich größer als heutzutage.« Er ist nicht der Einzige, der den Säxit fordert. Hier deutet sich das tiefer sitzende Problem des sächsischen Exzeptionalismus und eines verqueren Umgangs mit Geschichte an.

Ankerpunkt Historie

Man kann das an der Mosaik-Sonderausgabe erkennen, die sich der Freistaat zum 30-jährigen Bestehen selbst schenkte. Sachsen glänzt durch Erfindungsreichtum (»fischelant« wird natürlich zitiert). Sorben kommen gar nicht vor, letztlich schrumpft der Freistaat aufs Elbtal zusammen. Dass Sachsen fast immer auf Seiten der Verlierer stand, wird nicht erwähnt (s. S. 25). Dafür zieht eine falsche Geschichtsdarstellung einen Bogen von den durch die Römer erwähnten Sachsen bis zum Freistaat. »Wie die Sachsen nach Sachsen kamen«, heißt es irrlichternd. Jedoch kamen die Sachsen – einen Germanenstamm dieses Namens gab es ohnehin nicht – nie hierher, es vollzog sich lediglich ein Namenswandel für die Mark Meißen. Das heutige Sachsen heißt erst seit ein paar hundert Jahren so, da muss man eine lange zurückreichende Traditionsspur erfinden. Eine »Tausendjährige Geschichte« listet die Website der Frauenkirche auf. Ein paar Ereignisse fehlen dort, was beispielhaft ist nicht nur für die Dresdner Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Die Frauenkirche wurde 1934 zum »Dom der Deutschen Christen«, einer nationalsozialistischen Strömung. Die Landessynode hatte hier »28 Thesen der Sächsischen Volkskirche« beschlossen und sich darin unter anderem zu »Blut und Rasse« bekannt. Davon ist nichts zu lesen, während das Gedenken an die Luftangriffe vom 13. Februar 1945 alles überschattet.

Wie solch ein selektives Geschichts- mit einem ebenfalls speziellen Selbstverständnis fusioniert, haben Maria Steinhaus, Tino Heim und Anja Weber in ihrer Studie »Pegida und die Paradoxien der ›sächsischen Demokratie‹« zusammengefasst: »Neben den jedem Lokalpatriotismus gemeinsamen Beschwörungen der besonderen Qualitäten der örtlichen Landschaft, des Weins, des Biers und der Frauen ist diese [Selbstsicht, Anm. der Red.] durch ein Syndrom spezifischer Orientierungs- und Ankerpunkte gekennzeichnet. Sachsen kann demnach eine exzeptionelle Stellung beanspruchen, die auf der besonderen Verbindung des ›Glanzes‹ höfischer Kunst- und Kulturtradition mit einem genuin sächsischen ›Erfinder-‹ und ›Unternehmergeist‹ und den im Begriff der Fischelanz zusammengefassten Attributen Weitsicht, Klarsicht und Umtriebigkeit beruht, aber auch auf einer langen Tradition politischer Eigenständigkeit und des kollektiven Eigensinns.« Selbstüberhöhung, die andere ablehnt, auch, weil diese das nicht anerkennen.

Ein Mitarbeiter der Landeszentrale für politische Bildung spricht im Interview für die Studie »Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit in Ostdeutschland im regionalen Kontext« von einem »monarchieähnlichen Zusammengehörigkeits- und Harmoniebedürfnis. »Die  offene Streitkultur, […] die ist schwach ausgeprägt. Sondern wenn man streitet: aber bitte nicht so schlimm und immer gucken, […] ob [der König] noch geneigt ist, das sich anzuhören. Das entspricht ja auch der Erfahrung. Die Monarchiezeiten waren nicht die schlechtesten.« Auch hier also wieder Monarchie-Metaphorik. Kein Wunder, dass die Selbstinszenierung des ersten Ministerpräsidenten Biedenkopf als »König Kurt« auf fruchtbaren Boden fiel.

Im Namen Sachsens – Sachsen im Namen

Bereits in einer Grundsatzrede 1991 erklärte der frisch gekürte Ministerpräsident Kurt Biedenkopf, dass die neue Bundesrepublik eine bessere sei, »weil Sachsen zu ihr gehört«. Diese Selbst-Behauptung drückt sich in der Distanziertheit zu Berlin aus. Man mag darin einen Nachschein der historischen Konkurrenz mit Preußen erkennen, jedenfalls prägt sie die Politik der sächsischen CDU. Man könne keine Ratschläge aus Berlin gebrauchen, maulte Ministerpräsident Michael Kretschmer bei Twitter über Corona-Regeln, wohl wissend, wen er da – wie zuvor im Kampf gegen den Kohleausstieg – mobilisierte. Aus Gründen dieser Abstandnahme nennt sich der regionale Ableger auch Sächsische Union und prägen die Landesfarben das Erscheinungsbild. Die Junge Union hat zusätzlich »Niederschlesien« im Namen. Und als nach Stanislaw Tillichs Rücktritt als Ministerpräsident 2017 ein Dorfbürgermeister im MDR den anwesenden Nachfolger Michael Kretschmer als »ersten sächsischen Ministerpräsidenten« bezeichnete, führte das nicht zum sofortigen Skandal. Er erklärte auf Nachfrage, dass die ersten beiden aus dem Westen gekommen waren und Tillich ja »Sorbe« sei – er wurde zum Fremden gemacht. Und das, obwohl Tillich im Wahlkampf als »Der Sachse« auftrat und selbst das Narrativ der sächsischen Außergewöhnlichkeit bediente.

Der sächsische mentale Ausnahmezustand führt klar zur Ausgrenzung. Diese wird verstärkt, indem man Rassismus etc. weder bekämpft noch benennt. Wenn dieses Benennen dann von außen erfolgt – man denke nur an die rassistischen Ausschreitungen in Mügeln 2007 und die entsetzte Reaktion vor Ort auf die bundesweite Presseberichterstattung –, dann fühlt man sich »in die rechte Ecke gestellt«. Als Abwehrreflex soll der Sachsen-Bashing-Vorwurf alle Kritik stillstellen. Diese gefühlte Bedrohung durch Fremdes und von außen Kommendes drückte Kretschmer vor einigen Jahren aus, als er wünschte, »dass überregionale Medien näher an den Osten heranrücken.« Je weiter die Redaktionsstuben entfernt seien, »desto unschärfer, aber härter« würde deren Urteil ausfallen.

Hufeisenwerfen

Lediglich ein »Nacheileverhalten« erkannte der Politikwissenschaftler Werner Patzelt in den rassistischen Zusammenrottungen in Chemnitz 2018, die selbst die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) »Hetzjagden« nannte. Patzelt forderte die sächsische CDU, deren Mitglied er ist, zum Rechtsruck auf und warb für eine Zusammenarbeit mit der AfD. Zuvor war er mit Verharmlosungen von Pegida aufgefallen. Hier würden lediglich normale Menschen ihren Unmut bekunden: »Anscheinend drängt das Magma des unrepräsentierten Volksempfindens und unveredelten Volkswillens allenthalben in Deutschland nach oben.« Diese Analyse ist nicht nur politisch motiviert, sondern beruht auf einer weiteren sächsischen Besonderheit: der Extremismustheorie. Werner Patzelt steht für das bemerkenswerte Phänomen, dass ausgerechnet sächsische Politikwissenschaftlerinnen einen in diesem Wissenschaftsfeld weitestgehend abgelehnten Begriff so vehement vertreten. Neben Patzelt sind der mittlerweile emeritierte Eckhard Jesse sowie Uwe Backes prominente Vertreter der Extremismustheorie, die auch dadurch politische Debatten bestimmt. Diese Theorie beschreibt das politische Spektrum als ein Hufeisen: Es gibt eine Basis und die extremistischen Ränder »links« und »rechts«, welche  sich am Ende fast wieder berühren, je extremistischer sie sind. Beide werden miteinander gleichgesetzt und als Bedrohungen einer »normalen« verfassungstreuen Mitte wahrgenommen, die die Mehrheitsbevölkerung ausmacht.

Dieser unbestimmte, weil formale Extremismusbegriff führt zu Verharmlosungen und Verzerrungen. Man erinnere sich an Kurt Biedenkopfs mehrfach wiederholte Aussage, die Sachsen seien gegen Extremismus immun. Wohin das führt, kann man besonders gut in Sachsen sehen, wo es zum Beispiel sechs Jahre dauerte, bis der Verfassungsschutz Pegida als extremistisch einstufte. Lange galt das Dresdner Protestbündnis als irgendwie bürgerliche Bewegung, unter die sich Nazis und andere extreme Rechte gemogelt hatten. Ähnlich bewertet wurden und werden die Querdenken-/Freie-Sachsen-Demonstrationen, die als plötzlich von Gewaltbereiten unterwandert galten. Der »besorgte Bürger« ist sächsischen Ursprungs, die Floskel kam mit Pegida auf. Dass die Hufeisentheorie von neutraler und harmloser Mitte und den extremen Rändern hinkt, zeigt sich an der Unmöglichkeit, menschenfeindliche Einstellungen einzuordnen. In Sachsen meint jeder Zweite, Deutschland sei durch Ausländer »überfremdet« und durch »die vielen Muslime« fühle er sich manchmal wie ein Fremder – wo ordnet man sie im Hufeisen ein? Diskriminierende, rassistische, antisemitische Ressentiments, die in ganz Deutschland gesamtgesellschaftlich weit verbreitet sind, sieht die Theorie für die sogenannte Mitte der Gesellschaft nicht vor. Also kann sie diese auch nicht erkennen. Daher werden selbst noch Menschen, die mit Reichsfahne oder den Holocaust verharmlosenden Accessoires (Davidstern mit »ungeimpft«) herumlaufen, als »bürgerliche Corona-Kritiker« verharmlost.

Aus diesem Missverständnis resultiert eine weitere Eigenart sächsischer Politik: mit Rechten zu reden. »Undemokratische Ausgrenzeritis« nannte Frank Richter, damals Leiter der Landeszentrale für politische Bildung, die Kritik daran, dass man runde Tische für und mit Pegida-Anhängerinnen veranstaltete. Ministerpräsident Kretschmer wiederholte diese Praxis, als er mit illegal Demonstrierenden gegen Corona-Maßnahmen im Dresdner Großen Garten sprach – und selbst Hygieneregeln nicht einhielt. Das folgt dem Mantra der Extremismustheorie, die nur brave Bürger erkennen kann, wo keine Springerstiefel zu sehen sind. Tatsächlich stellen solche Gespräche genauso eine Ermutigung für die Demonstrierenden dar, weiter eskalierend unterwegs zu sein, wie das Nicht-Agieren der Polizei bei den zahlreichen als »Spaziergänge« verharmlosten Demonstrationen. Die Akteure erfahren ausgebliebene Zurückweisung als Signale des Zuspruchs. Und so ist es auch nicht überraschend, wenngleich indiskutabel, dass die Demonstrierenden gerade vor den Häusern ihrer Gesprächspartnerinnen wie Sozialministerin und Ossi-Versteherin Petra Köpping (»Integriert doch erst mal uns!«) auflaufen. Diese fühlen sich nun von ihr verraten – und ja, darum geht es: ums Gefühl, um nichts anderes. Das übersehen alle, die meinen, mit Rechten reden zu wollen. Natürlich muss man zuhören, wenn es um ein Gespräch geht. Aber das ist hier nicht der Fall. Diese Leute wollen nur recht haben und werden solange wie bockige Kinder auf den Boden stampfen. Und lässt man sie damit durchkommen, ist das wie eine Anerkennung. Rechten Milieus kommt man aber nicht mit Umarmung, sondern Zurückweisung bei. Sonst normalisiert man sie.

Nirgendwo sonst spielt die Extremismustheorie so eine große Rolle wie in Sachsen. Vor der Einführung der sogenannten Extremismusklausel auf Bundesebene wurde eine solche  Regelung bereits in Sachsen installiert. Öffentlich geförderte Projekte mussten qua Unterschrift bestätigen, dass weder sie noch einer ihrer Kooperationspartner »extremistisch« gesinnt sind. Als die Klausel im Bund abgeschafft wurde, verschärfte sie Sachsen zunächst sogar. Auch das folgt der Logik des Hufeisenmodells: Alle, die sich gegen rechts engagieren, müssen ja links, also verdächtig sein. Daher wird auch jedes Engagement für mehr Mitsprache beargwöhnt. Es ist im allen Streit vermeidenden Politikstil des Durchregierens nicht vorgesehen, der alle politische Kultur stillstellt. In diesem sehr formalen und institutionellen Verständnis von Politik fehlt ein wichtiges Element von Demokratie. Aushandlungsprozesse, also ausdiskutierte Interessenskonflikte, finden nicht statt. Alle Entscheidungen werden per Dekret bestimmt und mit Sachzwang begründet. Es geht nicht ums Argument. Was das Getriebe aufhält und nicht vorgesehen ist, wird als störend und im Zweifelsfall extremistisch betrachtet. Das ist CDU-Logik, die auch in die Verwaltungsapparate übergegangen ist. Von »sächsischer Demokratie« sprach der damalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) einmal.

Was tun?

Eine kurzfristige Lösung ist nicht in Sicht. Es bedarf eines Wandels in der politischen Kultur. Der erste Schritt wäre gemacht, wenn besonders die CDU bemerken würde, dass jedes Zugeständnis an die Feinde der Demokratie – und als solche muss man bezeichnen, wer die Monarchie herbeiträumt oder Impfzentren mit Gaskammern gleichsetzt – als Bestätigung und Resonanzverstärker fungiert. Für die Zivilgesellschaft bedeutet das, weiterhin einen langen Atem zu haben, sich weiterhin in den vielen existierenden Initiativen zu engagieren und die stattfindende Kriminalisierung durch die Regierenden abzuwehren. Teile der Regierenden, neben der CDU sind immerhin auch SPD und Grüne mit am Steuer, müssen ihrerseits endlich wahrnehmbar in ihrer Kritik an den Zuständen der sächsischen Demokratie werden. Mehr Bildung, vor allem historische, politische und kulturelle, täte allen gut. Statt Leit- braucht es eine robuste Konfliktkultur. Denn Demokratie ist im Kern Widerstreit, also Diskussion, aber auch Anerkennung von Minderheiten und ihren Ansprüchen. Das haben diejenigen, die sich gerade gegen Corona-Maßnahmen auf die Straße mobilisieren lassen, nicht im Sinn. Ihnen geht es ums Rechtbehalten. Und sollte diese Pandemie einmal vorbei sein, dann wüten sie gegen Klimaschutz oder anderes. Denn für Gemeinsinn ist im sächsischen Exzeptionalismus kein Platz, man kennt hier nur die Sippe. Einsicht aber fängt beim Selbstbild an – und dessen möglicher Korrektur.

TOBIAS PRÜWER

FOTO: CHRISTIANE GUNDLACH


INFO

Die Last historischer Kränkungen

»Nicht nur die Staatlichen Kunstsammlungen wurden bestohlen, sondern wir Sachsen insgesamt«, erklärte Ministerpräsident Michael Kretschmer angesichts des Dresdner Juwelendiebstahls. Innenminister Roland Wöller nannte diesen einen »Anschlag auf die kulturelle Identität aller Sachsen«. Aus diesen Worten spricht tiefe Kränkung, die weit zurückreicht. Die Geschichte hat Sachsen schon immer übel mitgespielt, klingt als Unterton an. Denn fast immer, wenn sich das Fürstentum und spätere Königreich an Kriegen beteiligte, ging es als Verlierer daraus hervor, woraus sich ein Stück weit die latente Aggressivität unter Sachsen erklärt.

Seit dem späten Mittelalter befand sich Sachsen in ewiger Konkurrenz zu Brandenburg, dem späteren Preußen. Das Spannungsverhältnis verdichtete die gleichnamige DDR-TV-Serie auf die Formel »Sachsens Glanz und Preußens Gloria«: Der eine glänzt, der andere gewinnt. Lange sahen die sächsischen Regenten in Brandenburg-Preußen einen Juniorpartner, verschätzten sich und zogen nach dem Dreißigjährigen Krieg den Kürzeren. Tatsächlich war das Schicksal beider Länder miteinander verknüpft, Preußens Aufstieg hing mit dem sächsischen Abstieg zusammen.

Kein Zweiter verkörperte Glanz wie August der Starke, von dessen Selbstinszenierung ein Teil der Sachsen immer noch zehrt. Kriegsglück hatte er weniger. Er führte Sachsen in den Großen Nordischen Krieg (1700–21), den er vom Zaun brach. Die Truppen wurden geschlagen, zwischenzeitlich verlor August sogar die polnische Krone und konnte sie nur mit russischer Hilfe wiedererlangen. Das geschwächte Sachsen ließ machtpolitisch Platz für Preußen.

Den ersten direkten militärischen Konflikt fochten Sachsen und Preußen im Zweiten Schlesischen Krieg (1744/45) aus, wo der südliche Nachbar unterlag. Dresden wurde besetzt und musste Reparationszahlungen an Berlin leisten. Ein Jahrzehnt später bezwangen preußische Truppen im Siebenjährigen Krieg (1756–63) die sächsische Armee und lösten sie auf. Sachsen kapitulierte, erlebte die Besetzung des gesamten Landes als besondere Schmach. Über mehrere Jahre übte Preußen strenges Kriegsregiment aus, was nicht nur gefühlte, sondern tatsächliche Erniedrigung war. Von Preußen-Lenker Friedrich II. sind Sätze überliefert wie: »Die Sachsen sollen chikanieret, ihre Waren bei der Entree difficiliert werden.« Er beschrieb seine Freude, »Sachsen zu demütigen oder besser gesagt, zugrunde zu richten«. Und in der Tat ließ er sich von Sachsen seine Soldaten bezahlen und schädigte dessen Wirtschaft nach haltig.

Sachsen wurde nun auf Dauer in die zweite Reihe europäischer Akteure zurückgedrängt. Die militärischen Niederlagen bewirkten kollektive Traumata und dann folgte noch die selbst gemachte Katastrophe von 1813. Selbst bei der Völkerschlacht irrten die Sachsen: Als Napoleon geschlagen wurde, standen sie auf seiner Seite. Bei der darauffolgenden Neuordnung Europas auf dem Wiener Kongress erfuhr Sachsen einen massiven Gebiets- und Bedeutungsverlust. Eigentlich kam das Land noch glimpflich dabei weg, denn Preußen beanspruchte das gesamte Territorium für sich. Auf Einspruch Österreichs verschwand Sachsen nicht von der Landkarte und blieb Königtum. Dafür wurde es allerdings geteilt: Unter anderem gingen die Stifte Merseburg und Naumburg an Preußen, Teile der Oberlausitz und die Ämter Torgau und Delitzsch. Leipzig durfte gerade so bleiben – was bis heute den merkwürdig anmutenden Grenzverlauf direkt um Leipzig herum erklärt.

Außenpolitische Eigenständigkeit verlor Sachsen mit der preußisch-deutschen Reichsgründung, bei der Berlin als Zentrum an Bedeutung noch gewann und Fixpunkt der sächsischen Konkurrenz und des Neides blieb. Einen – immerhin nur wirtschaftlich zwischen beiden Gebieten geführten – Eisenbahnkrieg später erfuhr Sachsen mit der erzwungenen Abdankung des Königs einen weiteren Verlust an Eigenständigkeit, was dann in der kompletten Gebietsauflösung zu DDR-Zeiten resultierte. Hinzu kam ein wirtschaftlicher Bedeutungsverlust. Bis zur Kapitulation im Zweiten Weltkrieg war Sachsen stärkste deutsche Industrieregion. Die »blühenden Landschaften«, die nach der Wende auch dank Solidarpakt entstanden, können das bisher nicht aufwiegen.

Zusätzlich erfolgte die sprachliche Herabsetzung. Sächsisch – lange wurde der Mythos gepflegt, das sei die Sprache Luthers gewesen – stand lange hoch im Prestige. Goethe wurde während seiner Leipziger Studienzeit für sein Frankfurterisch ausgelacht. Der oben skizzierte Machtverlust führte aber dazu, dass die dummen Figuren auf den Theaterbühnen des 19. Jahrhunderts zu sächseln begannen. Der Sachse wurde reichsweit zum Prototypen der Einfalt. Der sächsische NS-Gauleiter Martin Mutschmann wollte darum Sachsenwitze und das Imitieren der Sprache verbieten, weil sie deren wahre Schönheit verunglimpften. Sprachpflege durch Verbot, auch das kann zu Kränkungen führen, zumal diese Bestrebungen außerhalb Sachsens eher belächelt wurden. Dass DDR-Chef Walter Ulbricht hörbar aus Leipzig stammte und Sächsisch für westdeutsche Medienmacher bis heute als Sprachmuster für den meckernden Ossi herhalten muss, machte die Sache auch nicht besser.


INFO

»Sachsen braucht Vergleich nicht zu scheuen«

Für den »Sachsenmonitor« lässt die Staatsregierung regelmäßig Sachsen zu ihrem Leben und Zukunftserwartungen befragen. Dabei tritt regelmäßig Alarmierendes zutage. So stimmten unter anderem in der zuletzt 2018 erhobenen Umfrage zwar fast alle dem Prinzip der Oppositionsfreiheit zu. Andererseits bejahten 43 Prozent die Aussage: »In einer Demokratie kommt es auf die Rechte der Mehrheit an. In Deutschland wird zu viel Rücksicht auf die Rechte von Minderheiten genommen.« Mehr als die Hälfte meinte, es brauche in »diesen Zeiten« eine starke Hand, jeder Zehnte hielt die Diktatur für die unter Umständen bessere Staatsform. Ein Drittel vertrat die Auffassung, Alteingesessenen kämen mehr Rechte als später Zugezogenen zu.

Exakt 88 Prozent waren stolz auf das seit 1990 in Sachsen Erreichte, 80 Prozent erklärten, das Bundesland müsse den Vergleich zu den westdeutschen Bundesländern nicht scheuen. Drei Viertel stuften die wirtschaftliche Lage gegenüber den anderen ostdeutschen Ländern als besser ein.


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