Ein Jahr nach dem russischen Überfall auf die Ukraine mitsamt seiner Fluchtbewegung nach Leipzig sind Bande der praktischen Solidarität entstanden – über politische Lager hinweg.
Es ist dunkel, kalt und verregnet. Ende November hat sich eine Gruppe von Ukrainerinnen und Ukrainern am Wilhelm-Leuschner-Platz eingefunden. Auf dem Boden stehen Hunderte von Kerzen, zum Abbild eines Engels formiert. Auf einer Leinwand läuft ein Film zur Geschichte der Ukraine. Unter den Teilnehmenden der Kundgebung ist Nathanael Wolff, der sagt: »Wir, eine Gruppe von Ukrainer:innen und Deutschen, organisieren seit Januar Kundgebungen und Demonstrationen zur Unterstützung der Ukraine in Leipzig. Außerdem sammeln wir Spenden, um ukrainischen Zivilisten humanitär zu helfen, aber auch militärisches Gerät für die ukrainischen Streitkräfte. Wir sind heute hier, weil wir einerseits den Holodomor, des sowjetischen Hungergenozids an den Ukrainer:innen Anfang der 1930er Jahre, gedenken wollen.« Auf der anderen Seite gehe es auch um Aufmerksamkeit für den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine – und die Forderung nach Waffen.
Unter den Demonstrierenden findet sich breite politische Couleur: Ein Redner würde sich eher der FDP zuordnen – eine junge Mutter mit Kind eher der SPD. Mira kommt aus Kyjiw, wirkt vergleichsweise alternativ. Gegenüber dem kreuzer sagt sie: »Zunächst einmal möchte ich betonen, dass ich mich nicht als links bezeichne. Für Deutschland mag das passen, aber für die Ukraine ist der Begriff zu weit gefasst. Unter den Begriff ›links‹ fallen Menschen, mit denen ich keine Schnittmenge habe. Selbst die einmarschierenden Russen bezeichnen sich als links. Ich habe mich in der Flüchtlingshilfe und im ABC Kyjiw (Anarchist Black Cross, anarchistische Gefangenenhilfsorganisation, Anm. d. Red.) engagiert. Ich würde mich also als Anarchistin bezeichnen.«
Und wie steht Nathanael Wolff zur Linken? »Unserer Ansicht nach bedienen Teile der radikalen Linken – aber auch der faschistischen Rechten – die Agenda des russischen Faschismus und wirken damit praktisch als dessen fünfte Kolonne hierzulande. In ihrer außenpolitischen Kollaboration mit dem Putinismus bilden sie faktisch – ob gewollt oder nicht – eine Querfront.«
Auf der Kundgebung am Leuschner-Platz fotografiert Anna Perepechai. Sie studierte Journalismus in Kyjiw und kam 2014 nach Deutschland. Aktuell studiert sie an der HGB und betreibt den Instagram-Account Ukraine_Leipzig. Dort ruft sie zur Unterstützung der Ukraine auf, mobilisiert zu Kundgebungen und dokumentiert das Leipziger Protestgeschehen rund um die Ukraine. Gegenüber dem kreuzer konstatiert sie: »Manchmal ist es kompliziert mit der linken Szene in Leipzig. Besonders mit denen, die immer noch rote Flaggen und Hammer und Sichel feiern. Für uns sind das imperialistische Unterdrückungs- und Terrorsymbole. Es ist einfacher, ›No Borders, No Nation‹ zu rufen, wenn du im privilegierten Deutschland aufgewachsen bist und Russland nicht als Nachbarland hast.«
Einen guten Einblick in die Exil-Community hat Pia vom Space Leipzig. Dieser hat sich im März 2022 aus einem Zusammenschluss von Personen mit zivilgesellschaftlichem Engagement gegründet. Mit Sitz in der Villa wurden in Hochzeiten 500 geflüchtete Menschen pro Tag mit Mahlzeiten versorgt. »Wir ziehen gerade von der Villa in die Eisenbahnstraße um und bieten aktuell Beratung«, erklärt Pia. Wie sie das politische Engagement von Geflüchteten aus der Ukraine einschätze? »Viele versuchen, auf die Verbrechen des Krieges aufmerksam zu machen. Manche sind dabei sehr aktiv. Der Space wurde gemeinsam mit Ukrainerinnen und Ukrainern gegründet – ohne sie wäre es nicht möglich, das alles zu bewältigen.«
Das Linxxnet rief angesichts eines im kreuzer veröffentlichten Monitoringberichts zur Lage in der Ukraine zu einem »Winter der Solidarität auf«. Es gehe darum, die Aufmerksamkeit für die Ukraine hochzuhalten und die Zivilgesellschaft vor Ort zu unterstützen. Konkret soll dies mit einer Reise befördert werden: »Dort treffen wir Freiwilligenorganisationen, Akteurinnen der Zivilgesellschaft und emanzipatorische Bewegungen«, lautet es im Spendenaufruf zur Reise.
Unterstützt wurde dieser von NGO VOSTOK SOS, dem ukrainisch-deutschen Künstler:innenkollektiv Óstov, Space Leipzig, dem Leipziger Osteuropawissenschaftler Tim Bohse, der Bürgerrechtlerin Gesine Oltmanns, dem Pfarrer der Peterskirche Andreas Dohrn und Nathanael Wolff für den Freundeskreis der Ukraine in Leipzig, einem Verein in Gründung.
Pia vom Space Leipzig wird die Linxxnet-Delegation begleiten: »Mich interessiert der Kontakt zu Menschen, die nach Leipzig geflohen und wieder in die Ukraine zurückgegangen sind, und warum sie wieder zurückgegangen sind.« Dazu besteht bereits Kontakt zu Dasha. Sie war von März bis November 2022 in Leipzig – seitdem ist sie wieder in der Ukraine. Sie kommt ursprünglich aus Zaporizhzhya und reist nach Kyjiw, um die Linxxnet-Delegation mit Übersetzungsdienstleistungen und Kontakten zu unterstützen. Auch der kreuzer wird die Delegation begleiten: Zusammen mit Viktor Baraboj, der 1993 als jüdischer Kontingentflüchtling aus der Ukraine nach Deutschland kam, wo er als Arzt arbeitet, werde ich wie bereits im letzten Mai nach Kyjiw fahren (siehe kreuzer 07/22 und www.kreuzer-leipzig.de/ukraine). Wenn alles klappt wie geplant, treffen wir dort Anna Perepechai und sie macht die Bilder.
Titelfoto: Anna Perepechai