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Politik

»Das ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit«

Tim Bohse über die aktuelle humanitäre Lage in der Ostukraine

  »Das ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit« | Tim Bohse über die aktuelle humanitäre Lage in der Ostukraine

Tim Bohse stammt aus Leipzig und arbeitet seit 2014 für den Berliner Verein Austausch e.V gezielt in Ukraineprojekten. Er ist Osteuropaexperte und kommt gerade von einer Monitoringmission aus der Ukraine zurück, die seit 2015 regelmäßig mit der Partnerorganisation VOSTOK SOS durchgeführt werden. Anfang Dezember besuchten er und ein Team die Regionen Cherson, Donezk und Charkiw, um sich ein Bild vom humanitären Hilfsbedarf zu machen. Im polnischen Institut in Leipzig wurden am Dienstag die Eindrücke der Reise vorgestellt.

kreuzer: Für Ihren letzten Bericht waren Sie Ende November bis Anfang Dezember in der Ukraine. Was sind die zentralen Ergebnisse Ihres Berichtes?

Tim Bohse: Uns hat interessiert, wie der Krieg die Situation der Zivilbevölkerung beeinflusst. Wir wollten verstehen, wie der Bedarf an humanitärer Hilfeleitung aussieht. Wir haben dafür drei Faktoren identifiziert:
Die Frontnähe ist der schwerwiegendste Faktor. Dort entstehen quasi Todeszonen. Allein die Geräuschkulisse in Nachbarorten von Bachmut, die wir besucht haben, ist auf die Dauer gesundheitsgefährdend. Trotzdem ist der Punkt, wo die Entscheidung zur Flucht getroffen wird, oft erst dann erreicht, wenn Granaten im Nachbarhaus einschlagen. Bei Orten, an denen die Front stehen geblieben ist, stellt sich die Frage, ob diese wegen des Ausmaßes der Zerstörungen überhaupt wieder aufgebaut werden können. In einem zerstörten Dorf waren die einzigen Lebewesen zurückgelassene Hunde oder Katzen. Erwähnenswert ist der offensichtlich völkerrechtswidrige Charakter der Angriffe. Im nördlichen Rand von Charkiw stehen Skelette von Plattenbauten. Die russische Armee hat über Monate mit schwerer Artillerie in die Stadt hineingeschossen.
Der zweite Faktor sind die verheerenden Angriffe auf die Energieinfrastruktur. Wenn im Winter die Energieversorgung in den Regionen dauerhaft ausfällt, gibt es auch kein Wasser und das Kommunikationsnetz bricht zusammen. Bei den harten Wintern im Osten der Ukraine wäre mit vielen Toten zu rechnen. Das zerstört die Existenzbedingungen der Zivilbevölkerung, es gefährdet ältere, ärmere und wenig mobile Menschen, die keine Ressourcen haben, um zu fliehen. Das ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Eine extrem dramatische Situation.
Der dritte Faktor sind die Folgen der zeitweiligen Besatzung. Wir haben die Euphorie der Befreiung erlebt, aber auch Traumatisierung durch die Besatzungserfahrung war offensichtlich. Es gibt selbst in Wohnhäusern Minen und heimtückische Sprengfallen. Hilfstransporte sind teilweise lebensgefährlich, zumal sie durch zerstörte Infrastruktur ohnehin behindert sind. Auch die ukrainischen Lokalverwaltungen funktionieren nach der Besatzung nicht sofort in vollem Umfang, weil Mitarbeiter geflüchtet sind und eine Rückkehr nicht sofort möglich ist. Das hat zur Folge, dass in abgelegenen Stadtvierteln und einzelne Ortschaften gerade die Bedürftigen weder ausreichend mit Informationen noch mit konkreter Unterstützung erreicht werden können. 
 

Was passiert nun mit den Ergebnissen?

Wir haben die Ergebnisse beim französischen Außenministerium in Paris und bei Partnern im Menschenrechtsbereich vorgestellt. Am Dienstag fand dort eine Konferenz auf zwischenstaatlicher Ebene statt, auf der besprochen wurde, wie man die Ukraine unterstützen kann. Am Donnerstag präsentieren wir die Ergebnisse im Außenministerium in Berlin. Am Montag sprechen wir über unsere Beobachtungen bei einem bei einem Forschungsinstitut in Prag - einer Tschechischen Assoziation für internationale Politik (AMO).
 

Was würden Sie als Handlungsempfehlung ableiten?

Die Koordination von staatlichen Hilfsleistungen an die Ukraine ist nicht optimal. Grade in Frontnähe sind es kleinere Organisationen, Bürgermeister und einzelne ukrainische Freiwillige, die wesentlich flexibler und effektiver agieren, aber nicht gut genug in den Prozess der Hilfszustellung eingebunden sind. Die Informationsflüsse zu verbessern, die durch den Krieg entstehen, wäre eine Zielstellung um die Effektivität zu erhöhen.
Man muss sehen, dass der Krieg von Russland ungebremst weiter betrieben wird. Das stellt die Zivilgesellschaft in Deutschland vor eine besondere Aufgabe. Es geht darum die Aufmerksamkeit für die Entwicklung in der Ukraine aufrecht zu erhalten. Wir wünschen uns einen »Winter der Solidarität« mit der Ukraine in der Hoffnung, dass unsere Zusammenarbeit und Unterstützung im Frühjahr vielleicht besser aufgestellt ist, als das jetzt der Fall ist.
 

Ich höre vorsichtige Kritik.

Es gibt einzelne EU-Staaten, wie beispielsweise die baltischen Staaten oder Polen, bei denen mehr Empathie mit der ukrainischen Gesellschaft wahrnehmbar ist als in Deutschland. Im Verhältnis zur wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ist das Niveau der Unterstützung dieser Länder für die Ukraine zum Teil wesentlich höher als in Deutschland. In Anbetracht der abgründigen Form der Kriegsführung von Russland wäre es nötig, dass die Bundesrepublik innerhalb der EU eine Führungsrolle bei der Unterstützung der Ukraine einnimmt. Die Signalwirkung von entschiedener militärischer Unterstützung durch Deutschland könnte zu einer schnelleren Beendigung des Krieges beitragen. Weil das ein Faktor ist, der die Kalkulation der russischen Führung real beeinflussen kann. 
 

Bei der Veranstaltung im Polnischen Institut konnten wir auf den Leipziger Weihnachtsmarkt blicken. Wie geht ihr mit diesen verschiedenen Realitäten um?

Der Wechsel von der einen in die andere Welt zu erleben, ist psychisch und körperlich extrem anstrengend. [er schweigt eine Weile und atmet tief durch] Das ist die direkte Antwort. [Eine weitere Pause] Man braucht Zeit, um wieder in der anderen Welt anzukommen. 
Ich denke, dass die Zivilgesellschaft in Deutschland vor der Herausforderung steht, sich über längere Zeit in die Lebensrealität der Menschen in der Ukraine hineinzuversetzen, die unmittelbar vom Krieg betroffen sind, weil das die Grundlage von Solidarität und der Fähigkeit ist, einen Kleinen Teil der Last mitzutragen. Und wir müssen besser verstehen, dass die Normalität des Friedens, den wir in Deutschland genießen, nicht automatisch gegeben ist. 


Titelfoto: Eindrücke aus der Ostukraine. Copyright: Tim Bohse.


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