Schon wieder keine Buchmesse. Immerhin liest Leipzig in diesem Jahr dennoch und die popup-Messe und andere Initiativen geben auch den angereisten Verlagen die Möglichkeit, ihre Novitäten zu zeigen. Wir haben im Vorfeld schon reingelesen: Eine ganze Woche lang, Tag für Tag gibt es an dieser Stelle ein kleines Leseangebot der Literaturredaktion.
»Auf der Tripperburg«
Erlittenes Unrecht in der Riebeckstraße: Bettina Wilpert über widerständige Frauen
Anfangs könnte man meinen, es handele sich um einen klassischen Coming-of-Age-Roman. Es ist Sommer in Leipzig im Jahr 1983, die Tage sind lang und heiß. Zwischen den jungen Frauen Manja und Maxie entspinnt sich eine enge Freundschaft: Sie schwänzen zusammen die Schule, brechen in Kleingärten ein und sehen sich den Raketenstart der Astronautin Sally Ride im Westfernsehen an. Nach einem gemeinsamen Abend auf der Kleinmesse begleitet Manja den jungen Mosambikaner Manuel in dessen Wohnheim. Doch anstatt eine Nacht in Zweisamkeit zu verbringen, wird die 17-Jährige von der Volkspolizei mitgenommen. Manja landet auf der geschlossenen Venerologischen Station in Leipzig-Thonberg. Eine der sogenannten Tripperburgen, in die Frauen in der DDR zwangseingewiesen wurden – »wegen Herumtreiberei«, wegen angeblichen Verdachts auf Geschlechtskrankheiten oder weil sie von der Norm abwichen. Sie sind eingeschlossen, müssen schmerzhafte Untersuchungen über sich ergehen lassen, dürfen keinen Besuch empfangen.
Liselotte, von allen nur Lilo genannt, wird in denselben Backsteingemäuern eingesperrt. Vierzig Jahre früher hilft sie im Zweiten Weltkrieg Kommunisten im Untergrund, 1944 wird sie festgenommen. Und im Sommer 2015 fängt Robin auf ebenjenem Areal als Sozialarbeiterin an. Die Gebäude dienen zu dem Zeitpunkt als Unterkunft für Geflüchtete aus Iran, Syrien, Eritrea.
Bettina Wilpert nähert sich der dichten Vergangenheit des Komplexes an der Riebeckstraße. Dynamisch springt der Roman zwischen den Zeitsträngen, verwebt die einzelnen Ebenen behutsam miteinander, wechselt zwischen den Geschichten und Schicksalen der Protagonistinnen. Dreier Frauen, die sich den Anforderungen ihrer jeweiligen Gegenwart nicht beugen wollen – und Herumtreiberinnen bleiben.
LUCIA BAUMANN
Bettina Wilpert: Herumtreiberinnen. Berlin: Verbrecher 2022. 265 S., 25 €
Ach, das Paradies: Im Himmel ist kein Platz mehr für uns zwei
Ein Sammelband über das Matriarchat
Das Paradies ist weiblich – sicher nicht männlich. Zugegeben. Warum aber zum Beispiel, angesichts der Ermüdung ob der zwanghaften Geschlechterzuordnung, Anke Stellings Text?
»Ich will einfach nicht drüber nachenken. Ich werde wahnsinnig müde davon.«, schreibt sie und tut es dann doch. Gut, das Thema ist – in links-feministischen Kreisen – einigermaßen »sexy«. Und eine Schriftstellerin muss von etwas leben. Zwanzig literarische, wissenschaftliche und essayistische Stimmen versammelt der Band: weibliche wie männliche… Sanyal… Zaimoglu… Rudiš… Ein Appetizer für die Bücher der einzelnen Autor:innen? Als solcher regt der Band den Appetit an.
Trotzdem Mal für Mal dieselben matriarchalen Gesellschaften: in vier verschiedenen Texten die »Mosuo in Südwestchina« zum Beispiel, Kronzeugen folkloristischer Theorie. Von anderen zu lernen, ist unumgänglich. So leicht übertragen lässt sich dennoch nichts. Schließlich sind diese Gesellschaften agrarisch, nicht industriell.
Und in einer industriellen Gesellschaft regiert – Herrschaftsformen hin oder her – die »Therapie« (Stelling). Klammern die Menschen sich an Autoritäten, spielt es wahrscheinlich keine Rolle, ob diese priesterlich oder psychotherapeutisch sind. Die Tatsache der eigenen Unzulänglichkeit auszuhalten, strengt eben an. Wollen industrielle Menschen sich ändern, sind Psychopharmaka nötig. Sie machen die Menschen friedlicher, vielleicht – zumindest sedierter.
Da braucht es dann, frei von revanchistischer Langeweile, keine Herrschaft mehr, solange die Menschen einfach schlafen. Derweil dreht sich die Welt weiter. Und ich träume vom Paradies, vielleicht, oder von Büchern… Sanyals »Vergewaltigung«, Stellings »Schäfchen im Trockenen«. Das könnte mir durchaus ein weibliches Paradies sein.
FABIAN SCHWITTER
Tanja Raich (Hg.): Das Paradies ist weiblich. Zürich: Kein & Aber 2022. 256 S., 24 €
Herzrhythmusstörung im Takt alter Hits
Chloé Delaumes Roman »Das synthetische Herz«
»Adélaïde Berthel ist eine Frau wie viele andere. Für die mit sechsundvierzig Jahren das Ende der Mädchenträume eingeläutet wird.« Frisch geschieden stolpert die Sechsundvierzigjährige in die sogenannte zweite Hälfte des Lebens hinein und landet in einer winzigen Zweizimmerwohnung, allein. »Die Einsamkeit [lastet] auf ihr wie ein Sack Katzenbabys, die man zum Fluss trägt.« Also kauft Adélaïde eine Katze, die ein Monatsgehalt kostet – und zwar das der Pressefrau eines namhaften Verlags.
Chloé Delaumes streng durchkomponierter Roman – das erste Kapitel heißt »A Room on One’s Own«, die restlichen 23 tragen die Namen von Popsongs und Schlagern, meist aus den 1980er Jahren, den Soundtrack der Protagonistin und Autorin – wirft uns mitten in die wirbelnde Welt bürgerlicher Pariser Frauen mittleren Alters. Es wird hart gearbeitet, gekokst, getanzt und von der ultimativen Beziehung geträumt, die zur Not durch Hexenrituale herbeibeschwört werden soll. Delaume, bekannt für ihre musikalisch komponierte experimentelle Autofiktion, erkundet mit bissigem Humor und beglückender Sprache gesellschaftliche Klischees, Fallen und Fallstricke der herrschenden Geschlechterverhältnisse, mit denen die moderne, unabhängige Frau immer noch zu kämpfen hat. Eine bourgeoise Burleske, eine auf Paris deklinierte Version von »Sex in the City«, mit Witz und Komik gewürzt und mit einem ironisch-utopischen Ausblick auf das mögliche Ende der Protagonistinnen. Bleibt man bei dieser farcenhaften Lesart und führt sich Delaumes Worte vor Augen, mit denen sie die Gleichberechtigung als bisher fast nur in höheren gesellschaftlichen Schichten realisiert kritisiert, ist es eine leichtfüßige, kurios verspielte Lektüre – mit passender musikalischer Untermalung und der tonsicheren Stimme von Claudia Steinitz.
MARTINA LISA
Chloé Delaume: Das synthetische Herz. Aus dem Französischen von Claudia Steinitz. München: Liebeskind 2022. 160 S., 20 €