Einmal wöchentlich veröffentlicht kreuzer an dieser Stelle Briefe von Autorinnen aus der Ukraine. Vadym Yakovlev wohnt in Odessa. Für Yakovlev gehen im Krieg Raum und Zeit verloren. Was bleibt, sind die Geräusche.
»Der Krieg ändert das Vokabular. Er reaktiviert Wörter, die man bis dato nur aus historischen Romanen kannte. Vielleicht weil Krieg immer auch die Geschichte reaktiviert. Man kann sie sehen, schmecken, riechen. Meist riecht sie verbrannt«, schrieb der in Charkiw lebende Serhij Zhadan in seinem Band »Warum ich nicht im Netz bin« – es war 2014. Der Krieg fing an.
Der Krieg reaktiviert die Geschichte – auch ich habe schon an 1938/39 gedacht, an Sudetenland und Polen, an die Panzer in Prag 1968, an Jugoslawien... Seit dem 24.Februar führt Russland Krieg gegen die Ukraine. Einen zerstörerischen Krieg, der nicht zu begreifen ist. Einen Krieg, der – wie Zhadan schreibt –, auch die Farben verändert: »Für viele Menschen verschwinden ein für alle Mal die Schattierungen, plötzlich ist die Welt schwarz-weiß, fest umrissen, streng konturiert. Und auch die Sprache ist für viele plötzlich schwarz-weiß.« Das Schreiben verändert der Krieg auch. Relevant bleibt es nach wie vor, oder gar notwendig, so wie die Poesie als solche lebensnotwendig bleibt.
Wir haben Autorinnen aus der Ukraine gebeten, ihre Gedanken mit uns zu teilen. Einmal wöchentlich werden an dieser Stelle Briefe aus der Ukraine erscheinen. Ein besonderer Dank gebührt Jakob Walosczyk, vor kurzem noch DAAD-Lektor in Odessa, Übersetzer aus dem Polnischen, Ukrainischen und Russischen, der die Texte unserer Kolleginnen ins Deutsche überträgt.
Martina Lisa, kreuzer -Literaturredakteurin
Brief von Vadym Yakovlev
Yadym Yakovlev wurde 1990 geboren und lebt heute in Odessa. Yakovlev schreibt Romane und Kolumnen, 2020 erschien mit Yakovlev’s »Wo das Territorium beginnt« einer der ersten queeren Romane in der ukrainischen Literatur. Yakovlev veröffentlicht regelmäßig publizistische Texte zu den Themen LGBTQ, Demokratie und Gesellschaft in der Ukraine.
»In der Nacht bin ich von der Sirene wach geworden. Wahrscheinlich wird dieses Geräusch, das seit drei Wochen fast täglich zu hören ist, für immer in meinem Gedächtnis bleiben. Meine Sirene ist laut und befindet sich direkt neben dem Haus. Auch am Morgen bin ich von ihr wach geworden. Doch ich kann mich glücklich schätzen, denn bislang ist Krieg für mich gleichbedeutend mit dem Heulen dieser Sirene, nicht mit dem Geräusch von Bomben, oder Geschossen, die über mich hinwegfegen.
Krieg, das ist ein Geräusch, das in dein Leben einbricht und dir keine Ruhe lässt. Zuerst tötet es die Zeit. Die letzten drei Wochen sind vergangen wie ein Tag. Du kannst nicht mehr unterscheiden, ob es Freitag ist oder Samstag, Morgen oder Abend. Die Sirene interessiert es nicht, welcher Tag ist und welche Tageszeit. Irgendwann interessiert es auch dich nicht mehr. Dann tötet das Geräusch des Krieges den Raum. Dir ist gleichgültig, wo du bist – daheim, bei Freunden oder in einem Geschäft. In Lviv, Odessa, Charkiv oder Mykolajiw. Der Raum zerfällt in Orte, wo die Sirene oft heult, und in Orte, wo sie das selten tut.
Krieg, das ist ein Geräusch. Das Geräusch meines Freundes, der aus seiner Stadt geflohen ist und für eine Weile bei mir wohnen wird. In meiner engen Einzimmerwohnung schmiegen wir uns aneinander. Es stört mich nicht, diesen kleinen Raum mit ihm zu teilen. Es stört mich nicht, meine Zeit nicht nur mir selbst, sondern auch ihm zu widmen. Aber mich stört, wenn er sich am Telefon mit seinem Vater streitet, mit seinem Bruder und seiner Schwester, wenn er vergeblich versucht, sie zur Flucht zu überreden. Mich stört das Geräusch meines Freundes, der aus seiner Stadt geflohen ist und für eine Weile bei mir leben wird.
Krieg nimmt den Menschen ihr Gefühl für Raum und Zeit. Er macht das durch sein Geräusch, durch seine vielen Geräusche. Und du beginnst zu verstehen: Im Frieden machen Raum und Zeit dich aus. Was dich im Krieg ausmacht, ist die Abwesenheit von beidem.
Meine Mutter, meine Schwester und ihr Sohn sind nach Moldau geflohen. Meine Mutter ruft täglich an. Ich höre ihre Stimme. Manchmal ist sie aufgeregt, manchmal ruhig. Ich empfinde Angst, höre Mutter aber bis zum Ende an, ganz egal, was sie zu sagen hat. Denn ich sorge mich um sie. Auch für sie sind Raum und Zeit verschwunden. Ihr ist es egal, wo sie ist, solange es sicher ist und keine Sirenen heulen. Für sie hat die Zeit aufgehört zu existieren. Sie weiß nicht, was ihr Heute ist und sie weiß auch nicht, was ihr Morgen sein wird. Planen ist sinnlos. Aber ihr bleibt das Geräusch. Das Geräusch meiner Stimme im Telefon. Ich weiß nicht, wann wir uns endlich wiedersehen.
Gestern habe ich mir Bilder angesehen. Bilder von den Gräbern einer Frau und ihres zwölfjährigen Sohnes. Ein Geschoss tötete beide irgendwo bei Kiew. Sie wurden im Hof ihres eigenen Hauses begraben. Die Nachbarn improvisierten ein Kreuz und Tafeln mit ihren Namen und den Geburtsdaten. Jetzt werden die Frau und ihr Kind keine Sirenen mehr hören. Und die Stimmen ihrer Verwandten am Telefon auch nicht, genauso wenig, wie die Streitigkeiten ihrer Freunde, ihrer Brüder und ihrer Schwestern.
Krieg macht uns klar, dass es drei Arten von Menschen gibt: Die Menschen des Friedens, für sie existieren Zeit und Raum. Einen Übergang bilden die Menschen des Krieges. Das Geräusch der Bomben und Sirenen, der angsterfüllten Stimmen ihrer Verwandten, für die sie nichts tun können, raubt ihnen die Zeit und den Raum, beschenkt sie dafür aber mit Angst und Schrecken. Die dritte Art ist der Mensch in seiner abschließenden Gestalt. Der tote Mensch.
Noch gehöre ich der zweiten Art an. Ich hoffe sehr, dass ich es noch einmal schaffe, in die erste zurückzukehren. Ich beneide jetzt die Menschen, die niemals das Geräusch und die Stimmen des Krieges gehört haben.«
Aus dem Ukrainischen von Jakob Walosczyk
Titelbild: Privat