An dieser Stelle veröffentlicht kreuzer Briefe von Autorinnen aus der Ukraine. Diese Woche berichtet Natalya Devyatko aus Dnipro, eine Stadt wie eine Insel der Stabilität inmitten des Grauens.
Brief von Natalya Devyatko
Die 39-Jährige ist mehrfach ausgezeichnete Prosaautorin in den Genres Fantasy, Science-Fiction und Abenteuer sowie Journalistin, Übersetzerin und Wissenschaftlerin. Sie lebt in Dnipro.
»Für mich kam dieser Krieg nicht überraschend. Unter dem Deckmantel von Übungen hatte die Russische Föderation zehntausende Soldaten an unseren Grenzen zusammengezogen. Die ganze zivilisierte Welt schrie, es werde Krieg geben. Wir sahen den Chartermaschinen und Privatjets dabei zu, wie sie wochenlang Menschen aus dem Land brachten. Dutzende von Fliegern hoben in Kyjiw und andere großen Städten ab, ganze Prozessionen reicher Flüchtlinge. Gleichzeitig verschoben sich die Luftkorridore über dem Süden Russlands immer weiter nach Osten, weg von der ukrainischen Grenze und den russischen Militärverbänden. Es gab viele Anzeichen, aber wir hofften bis zuletzt, die zivilisierte Welt werde diesen Krieg noch verhindern. Leider konnte sie es nicht…
Der Morgen des 24. Februar 2022 begann für mich wie jeder andere auch. Ich wachte um 6.30 Uhr auf, machte mich fertig für die Arbeit, wollte frühstücken. Meine Mutter stellte das Radio an, dort spielte Musik, also nahm sie erleichtert an, es sei Frieden. Wir wüssten es doch sonst schon… Aber das flaue Gefühl im Magen blieb und wir schalteten den Fernseher ein, wo uns eine Laufschrift darüber in Kenntnis setzte, dass Putin die Ukraine überfallen hatte. Wir sahen erste Bilder von Zerstörungen, die Raketen aus Russland und Belarus angerichtet hatten.
Zehn Minuten später schlug eine ballistische Rakete in unserer Nähe ein. Das Haus erzitterte, aber wenigstens blieben die Scheiben ganz.
Uns war klar gewesen, dass der Angriff von der Grenze oder aus den besetzten Gebieten kommen würde, aber der Morgen des 24. war trotzdem ein Schock. Über einhundert Raketen waren in den ukrainischen Städten eingeschlagen. Jetzt war niemand mehr sicher. Es war Krieg.
Wir entschieden, in Dnipro zu bleiben, obwohl damals niemand wissen konnte, dass die Stadt eine Insel der Stabilität inmitten des Grauens werden sollte. Jetzt bereiten sich tausende Menschen auf die Verteidigung ihrer Stadt vor. Auf den Straßen Panzerigel, Checkpoints und Barrikaden. Wenn es dunkel wird, lassen alle ihre Jalousien herunter, um der feindlichen Luftwaffe die Orientierung zu erschweren. Die Straßenbeleuchtung ist aus. Dnipro versinkt im Dunkel. Nach der Sperrstunde sind nur noch Einheiten der Territorialverteidigung, Polizei und des Heeres auf den Straßen. Sie beschützen uns, sie suchen Diversanten. Wir unterstützen unsere Verteidiger wie wir nur können. Wir sammeln Geld für Uniformen, Medikamente, medizinische Geräte, für Essen, das wir an die Checkpoints bringen. Dank ihnen fühlen wir uns in Sicherheit. Regelmäßig heulen die Sirenen in der Stadt. Hinterher erfahren wir, wie viele ballistische Raketen über der Stadt abgeschossen wurden (einmal fielen Teile in der Nähe unseres Hauses nieder), oder wie an den Grenzen des Gebiets von Dnipropetrovsk die nächste Kolonne russischer Panzer und Panzerfahrzeuge zerstört wurde.
Wir alle tun jetzt, was wir können, um den gnadenlosen Feind aufzuhalten. Aber der erste Tag war ein Schock. Auf die Straße zu meinem Lieblingsgeschäft hatte jemand Kreuze gemalt. Eine Freundin stieg aufs Dach ihres Hauses, das höher ist als die anderen, und sah die gleichen Kreuze an den Dächern beinahe aller Häuser in der Nähe. Man fand hunderte dieser Markierungen, die den Angreifern als Orientierungspunkte dienen sollten. Und plötzlich fiel allen wieder ein, wie viele Leute in unserer Stadt noch im Sommer Geodäsie betrieben hatten. Der Feind hatte sich vorbereitet!
Heute beginnt mein Tag mit den Nachrichten: Was ist in der Nacht passiert, wo sind meine Freunde? Manche von ihnen haben Charkiw, Tschernihiw, Kyjiw, Irpin unter Beschuss verlassen. Jede dieser Geschichten ist entsetzlich.
Der Feind beschießt zielgerichtet Hochhäuser, Krankenhäuser, Schulen, Heizkraftwerke. Der Feind tötet Zivilisten, er macht sich über die Menschen lustig. Der Feind hat die Reaktorruine in Tschernobyl unter seine Kontrolle gebracht. Man muss doch jede Vernunft verloren haben, um so etwas zu machen!
Wir verändern uns. Furcht und Verzweiflung sind gewichen. An ihre Stelle traten Wut und Hass. Wenn du tote russische Soldaten siehst, spürst du Freude, dass diese Besatzer niemanden mehr töten können. Wir werden niemals mehr sein wie früher. Zwischen den Russen und uns wächst mit jedem Toten eine Wand, alle Verbindungen werden gekappt. Mit jeder neuen Ruine wächst die Rechnung, die nicht allein Putin begleichen wird, sondern mit ihm auch alle Propaganda-Zombies und das Heer der Gleichgültigen in Russland.
Russlands Zeit ist abgelaufen. Wie jedes Imperium wird es zerbrechen und in seine Einzelteile zerfallen. Das wird vor unser aller Augen passieren und wir tun alles dafür, um den Prozess zu beschleunigen. Denn mit jedem Tag wächst der Preis – Menschen sterben. Durch Gewehrkugeln, Artilleriebeschuss, Hunger und Durst.
Das Leben ist der höchste Wert. Der höchste Wert für die zivilisierte Welt. Für das heutige Russland und seine Bewohner hat es keine Bedeutung. Ihnen bedeutet das Leben nichts.
Jeder Mensch auf der Welt entscheidet selbst, auf welcher Seite er steht. Gemeinsam ist die zivilisierte Welt stark. Gemeinsam sind wir stark.
Der Frühling hat begonnen. Und das Leben wird siegen. Die Ukraine wird siegen! Davon bin ich überzeugt.
Und dann werde ich wieder Bücher schreiben.«
Aus dem Ukrainischen von Jakob Walosczyk
»Der Krieg ändert das Vokabular. Er reaktiviert Wörter, die man bis dato nur aus historischen Romanen kannte. Vielleicht weil Krieg immer auch die Geschichte reaktiviert. Man kann sie sehen, schmecken, riechen. Meist riecht sie verbrannt«, schrieb der in Charkiw lebende Serhij Zhadan in seinem Band »Warum ich nicht im Netz bin« – es war 2014. Der Krieg fing an.
Der Krieg reaktiviert die Geschichte – auch ich habe schon an 1938/39 gedacht, an Sudetenland und Polen, an die Panzer in Prag 1968, an Jugoslawien... Seit dem 24.Februar führt Russland Krieg gegen die Ukraine. Einen zerstörerischen Krieg, der nicht zu begreifen ist. Einen Krieg, der – wie Zhadan schreibt –, auch die Farben verändert: »Für viele Menschen verschwinden ein für alle Mal die Schattierungen, plötzlich ist die Welt schwarz-weiß, fest umrissen, streng konturiert. Und auch die Sprache ist für viele plötzlich schwarz-weiß.« Das Schreiben verändert der Krieg auch. Relevant bleibt es nach wie vor, oder gar notwendig, so wie die Poesie als solche lebensnotwendig bleibt.
Wir haben Autorinnen aus der Ukraine gebeten, ihre Gedanken mit uns zu teilen. Einmal wöchentlich werden an dieser Stelle Briefe aus der Ukraine erscheinen. Ein besonderer Dank gebührt Jakob Walosczyk, vor kurzem noch DAAD-Lektor in Odessa, Übersetzer aus dem Polnischen, Ukrainischen und Russischen, der die Texte unserer Kolleginnen ins Deutsche überträgt.
Martina Lisa, kreuzer -Literaturredakteurin