anzeige
anzeige
Kultur

Buchmessen gegen Heimweh

Wir brauchen Buchmessen – jetzt mehr denn je.

  Buchmessen gegen Heimweh | Wir brauchen Buchmessen – jetzt mehr denn je.

Unzählige Bücher überfluten den Markt. Martina Lisa, Josef Braun und Michelle Schreiber helfen einmal wöchentlich auf »kreuzer online« bei der Auswahl und teilen Gedanken, die in die Lektüre hineingenommen werden können. Diesmal macht sich Redakteurin Michelle Schreiber Gedanken zur Buchmesse und warum solche Veranstaltungen gerade im Moment besonders wichtig sind. 

In Gedanken bin ich bei den Opfern des Massakers in der ukrainischen Stadt Butscha. Ich fühle mich wortlos, machtlos. Für einen anderen Text fehlen mir die Kraft, die Expertise, die Worte.

Hier ist die Kolumne, die ich vor zwei Tagen schrieb und die mir nun so unbedeutend erscheint:

 

Die Magnolien frösteln unter einer leichten Schneedecke, als ich Frankfurt verlasse. Es ist der 2. April. Vor kurzem noch lag ich in der Sonne am Main unter blühenden Kirschbäumen. Vor zwei Wochen bin ich für das Buchmessen-Wochenende dieselbe Strecke gefahren: Frankfurt am Main Hbf - Leipzig Hbf.

In Frankfurt bin ich aufgewachsen und zur Schule gegangen, meine Eltern sind im Herbst nach meinem Abitur weggezogen. Für das Studium habe ich mich nach einem einjährigen Abstecher für Leipzig entschieden. In diesen Semesterferien bin ich jedoch kurzzeitig für ein Praktikum in meine Herzensstadt Frankfurt zurückgekehrt.

Was diese zwei Städte verbindet: Es sind Buchstädte, Messestädte. Zwei Herzen schlagen, ach, in meiner Brust. Eines für die Stadt in der Goethe geboren wurde, und eines für die Stadt in der er (mehr schlecht als recht) ein Jura-Studium begann. Kitschig, ich weiß.

Vor zwei Wochen bin ich dieselbe Strecke gefahren und habe mich gefreut auf die Häuserfassaden, die Schnörkel und den Stuck, Jugendstil in sandgelb, ziegelrot, blassrosa. Das Graffiti, die Freiheit, die in der Luft liegt, die Offenheit der Menschen. Als sich der Zug Leipzig nähert, klebt mein Blick am Horizont, den ich immer nach der Skyline absuche, nach dem ersten Anzeichen von: Du bist zuhause. Ich ertappe mich dabei, wie ich versuche, mich mit dem MDR-Turm zufrieden zu geben.

In Leipzig sitze ich am Hauptbahnhof und atme tief ein, beobachte das Licht, das in die Halle fällt. In Leipzig am Hauptbahnhof da sitzt man gerne, in Frankfurt am Hauptbahnhof sitzt man überhaupt nicht gerne, erst recht möchte man nicht tief einatmen. Später beobachte ich, wie zwei Frauen mit zwei ukrainischen Geflüchteten sprechen, ihnen dabei helfen, in eine Straßenbahn zu steigen und mir kommen die Tränen.

Der Grund für die Zugfahrt vor zwei Wochen: Die buchmesse_popup, die sich rund um die Verleger Leif Greinus (Voland & Quist) und Gunnar Cybulk (Kanon Verlag) formiert hat. Die Messe, die jetzt doch – zumindest in alternativer Form – stattfindet und die der Leiter der Leipziger Buchmesse Oliver Zille in seiner Festansprache geflissentlich ignorierte.

Die alternative Buchmesse war vor allem eins: Schön. Meine Kollegin, die Literaturredakteurin Martina Lisa, fasst die Stimmung in einem Artikel zusammen: Der Frühling zeigt sich in seiner Pracht und steht in Konflikt mit dem Wochenende, das von dem Krieg in der Ukraine überschattet ist. Bei einer Lesung bricht Tanja Maljartschuk in Tränen aus, sie wolle den schönen Abend mit ihren schweren Themen nicht stören.

Es scheint unmöglich, eine Runde in der Messehalle im charmanten Werk 2  zu drehen, ohne ins Gespräch zu kommen. In der Südbrause, in den Cammerspielen und in der Halle D finden eng getaktete Lesungen statt: zum Beispiel Heike Geißler, Uljana Wolf und Fatma Aydemir präsentieren ihre Bücher. Die Veranstaltungen sind erstaunlich gut besucht – erstaunlich bei dem umfassenden Programm, das vor Ort und im Rahmen des Lesefests »Leipzig liest trotzdem« in der ganzen Stadt stattfindet. Auch wenn die Menschen nicht in den messeüblichen Massen anreisten, die Buchstadt Leipzig steht hinter der Messe – oder ist es eben eine Lesestadt wie Ronya-Othmann in ihrer LVZ-Kolumne fordert?

Ich sage, wir brauchen die Leipziger Buchmesse, die Frankfurter Buchmesse, die Buchmesse in London gerade jetzt. Wir brauchen den Austausch, den Kontakt zwischen Autorinnen und Publikum, unter den Verlagen. Wir brauchen Zusammenhalt in einer Zeit, in der die Relevanz der Literatur ins Wanken geraten zu scheint. Insbesondere angesichts der Wirkmacht von Propaganda brauchen wir eine Freiheit der Kunst und Kultur. Gerade jetzt müssen wir weiter miteinander sprechen, weiterdenken, weiterschreiben. Wie in dem berührenden Briefprojekt, das Martina Lisa zusammen mit dem Übersetzer Jakob Walosczyk auf die Beine gestellt hat. Umso wichtiger war das Stattfinden der alternativen Buchmesse.

Im letzten Herbst nehme ich einen Zug von Leipzig nach Frankfurt, schlendere durch die leeren Messehallen. Die Buchmessen geben den Jahrestakt in der Branche vor, an ihnen lässt sich eine Zeitrechnung messen. Als das Praktikumsende und der Umzug zurück nach Leipzig nahen, schwingt in der kribbelnden Vorfreude auch die Wehmut mit. Es beruhigt um diesen Wendepunkt, das Drehkreuz in der Buchbranche zu wissen und halbjährlich zwischen meinen Herzensstädten zu pendeln. Es fällt mir leichter, den Koffer hinter mir her zu ziehen, vorbei an den eingeschneiten Autodächern und Magnolienbäumen, weil ich weiß:

Ich werde zurückkehren - allerallerspätestens im Herbst.


Kommentieren


0 Kommentar(e)