An dieser Stelle veröffentlicht kreuzer wöchentlich Briefe von Autorinnen aus der Ukraine. Die Lyrikerin und Übersetzerin Anna Gruver stellt in ihrem Brief die Frage, wann aus Zeugen Mittäter werden.
Brief von Anna Gruver
Anna Gruver (geb. 1996) ist Lyrikerin und Übersetzerin. 2019 erschien ihr erster Gedichtband auf Ukrainisch mit dem Titel »Ihre Suche ergab keinen Treffer«. Neben ihrer literarischen Tätigkeit studiert sie Hebrew Studies an der Jagiellonen-Universität in Krakau. Sie stammt aus Donezk, lebte zuletzt jedoch in Charkiv und Kyjiw, gegenwärtig in Lviv.
»Ihr habt uns viele Fragen gestellt
… aber nun will ich Euch was fragen. Sind das Menschen, machen Menschen so was? Ich wiederhole die Frage hinter der geschlossenen Zimmertür. Der Blick irrt umher, fixiert ein Buch, eine leere Vase, blumenlos und vereinsamt, einen hölzernen Kamm.
Wir sind vier junge Frauen und haben am Abend eine Kerze angezündet, zum Gedenken an die zu Tode gequälten, mit einem Nackenschuss hingerichteten, vergewaltigten, von Panzern zermalmten Menschen in den Städten um Kyjiw. Der Docht und die Flamme zittern von unserem (bislang noch) erstickten Weinen um die besetzten, noch nicht befreiten Städte.
Wie viele Kulturschaffende auf der Welt haben sich gefragt, ob sie das Recht haben, zu schreiben, Abstraktionen zu diskutieren, Musik zu komponieren, ihr philosophisches Denken zu entwickeln? Alle, die Adorno gelesen haben, alle, die seine Aussage zu Gedichten nach Auschwitz kennen. Sie war wie ein Schuss auf das 20. Jahrhundert, jetzt zielt sie auf das 21. Denn wie sich herausgestellt hat, ist die Haut der Menschheit dermaßen dick, dass sie sich in weniger als 90 Jahren beinahe vollständig mit einem Panzer bedeckt hat. Soll er Schutz bieten? Wovor? Vor der Erinnerung, vor der Erfahrung? Wer Schutz vor der Erinnerung sucht, wer vergessen, wer Fakten umschreiben will, der wird bloß dafür sorgen, dass sich die Geschichte wiederholt. Russische Soldaten deckten sich mit geklauten Teppichen zu, wegen ihrer Gier nach fremdem Besitz verbrannten sie bei lebendigem Leib.
Ist das ein Mensch?, fragte Primo Levi. Die Frage galt allen. Heute kann sich beim Anblick der getöteten Kinder im Sand, des Mannes, der von seinem Fahrrad geschossen wurde, der toten Zivilisten mit hinter dem Rücken gefesselten Händen kein denkender Mensch vor der Frage verschließen:
Ist ein Mensch zu so etwas fähig?
In den acht Jahren seit der Krieg uns zum ersten Mal – damals noch in Donezk – das Heim geraubt hat, habe ich kaum an all die zurückgelassenen Dinge gedacht.
Wenn ich heute die Bilder aus Gomel sehe, wo ein Basar für Diebesgut aus ukrainischen Wohnungen und Häusern entstanden ist, denke ich nicht an die Diebe und auch nicht an die Käufer. Ich denke meistens an die Menschen, die vorbeigehen und zu stummen Zeugen des Verbrechens werden. Wer in den sozialen Medien diese Bilder sieht und nichts tut, ist ein stummer Zeuge des Verbrechens. Ist das Freiheit? Es ist die Freiheit, nicht zu handeln. Nicht zu wählen. Die meisten von uns haben die Wahlfreiheit längst eingebüßt und sind deswegen auch nicht frei in ihrem Handeln. Was bleibt? Der Käfig als Simulakrum der Freiheit.
Stumme Zeugen gehen mit tief gesenktem Kopf vorbei, oder sie sehen zur Seite, gehen schneller, hören irgendeinem fernen Gespräch zu, stöpseln sich die Ohren mit Kopfhörern zu. Sind das freie Menschen?
Man wollte uns beibringen, abgerissen zu denken, stattdessen wurden unsere Wörter noch bedeutungsschwerer. Sie triefen vom Blut der Toten. Jeder denkende Mensch fragt sich:
Kann sich ein Mensch damit abfinden? Kann ich mich an diese Bilder gewöhnen? Paul Celans »Todesfuge« erklingt wieder über den vergewaltigten Städten.
Es kann passieren, dass erst etwas explodiert und dann die Sirene heult. Am 24. Februar war die Explosion. Die Sirene bleibt bislang aus, weil die Welt paralysiert ist und die Gefahr noch nicht wahrnimmt. Das war für mich eine der psychologischen Fallen in Charkiv: Sirenen, die nicht funktionieren.
Ich hatte mein von einer Detonationswelle beschädigtes Haus verlassen und trat in Dnipro, einer Stadt, in der ich kaum bekannte Wege und enge Freunde hatte, auf die Treppe vor dem Hauseingang. Dort sah ich lange vor mich hin.
Nach neun Tagen in düsteren Hochhäusern, mit pfeifenden Bombern in der Luft und Explosionen auf dem Boden – und all das bei völliger Abwesenheit von Sirenen – schien mir das, was ich sah, fern und beinahe fremd. Aber langsam wurde es real: der Asphalt, das Tor, die Bäume, der Wind, der starke, schutzlose Himmel im kalten März. Den die getöteten Bewohner von Irpin, Butscha, Hostomel und anderen Städten niemals mehr sehen werden. Den über sich dieselben Leute sehen, die klauen, kaufen oder an Basaren vorbeigehen, auf denen Sachen von Toten verhökert werden.
Selbst wenn »Freiheit« heute (wieder) bedeutet, das Nicht-Handeln zu wählen, findet sich diese »Freiheit« im Schweigen der Zeugen. Irgendwann wählten sie das Nicht-Sprechen. Sie wählen jetzt das Nicht-Sehen, das Nicht-Hinsehen: Dokumentarische Aufnahmen werden zu »unangemessenen Inhalten«. Sie werden verboten. Totgeschwiegen. Die historische Erinnerung erleidet Blackouts.
Schweigen ist eine Wahl. Zeugen sind wir alle. Zeuge eines Verbrechens ist jeder, der zumindest die Nachrichten liest, egal in welcher Sprache und in welchem Land. Schweigen vermag Zeugen zu Mittätern zu machen. Ich wende mich aus der Ukraine an Euch und bitte Euch, eure Wahl zu treffen, wenn Ihr das noch nicht gemacht habt: Lasst es nicht so weit kommen, werdet nicht zu Mittätern. Redet und hört von unserem Krieg. Nur so vereinigen sich die Stimmen der ganzen Welt zu einer einzigen, starken und furchterregenden Stimme.
Der Stimme der Wahrheit.
Aus dem Ukrainischen von Jakob Walosczyk
»Der Krieg ändert das Vokabular. Er reaktiviert Wörter, die man bis dato nur aus historischen Romanen kannte. Vielleicht weil Krieg immer auch die Geschichte reaktiviert. Man kann sie sehen, schmecken, riechen. Meist riecht sie verbrannt«, schrieb der in Charkiw lebende Serhij Zhadan in seinem Band »Warum ich nicht im Netz bin« – es war 2014. Der Krieg fing an.
Der Krieg reaktiviert die Geschichte – auch ich habe schon an 1938/39 gedacht, an Sudetenland und Polen, an die Panzer in Prag 1968, an Jugoslawien... Seit dem 24.Februar führt Russland Krieg gegen die Ukraine. Einen zerstörerischen Krieg, der nicht zu begreifen ist. Einen Krieg, der – wie Zhadan schreibt –, auch die Farben verändert: »Für viele Menschen verschwinden ein für alle Mal die Schattierungen, plötzlich ist die Welt schwarz-weiß, fest umrissen, streng konturiert. Und auch die Sprache ist für viele plötzlich schwarz-weiß.« Das Schreiben verändert der Krieg auch. Relevant bleibt es nach wie vor, oder gar notwendig, so wie die Poesie als solche lebensnotwendig bleibt.
Wir haben Autorinnen aus der Ukraine gebeten, ihre Gedanken mit uns zu teilen. Einmal wöchentlich werden an dieser Stelle Briefe aus der Ukraine erscheinen. Ein besonderer Dank gebührt Jakob Walosczyk, vor kurzem noch DAAD-Lektor in Odessa, Übersetzer aus dem Polnischen, Ukrainischen und Russischen, der die Texte unserer Kolleginnen ins Deutsche überträgt.
Martina Lisa, kreuzer -Literaturredakteurin
Titelfoto: Dirk Skiba