Unzählige Bücher überfluten den Markt. Martina Lisa, Josef Braun und Michelle Schreiber helfen einmal wöchentlich auf »kreuzer online« bei der Auswahl und teilen Gedanken, die in die Lektüre hineingenommen werden können. Diesmal liest Redakteurin Martina Lisa »Zukunftsmusik« von Katerina Poladjan, einen wunderbaren, hoffnungsvollen Roman, der sich die Frage stellt: »Was also nun?«
»Играем«, wir spielen oder vielleicht auch: los, lasst uns spielen, steht als Motto am Anfang von Katerina Poladjans neuem Roman »Zukunftsmusik«. Irgendwo in Sibirien, weit weg von Moskau, an einem Märztag 1985, spielt das Radio in aller Frühe Chopins Trauermarsch. Ein eindeutiges Zeichen: »kein Grund zu verzagen, mehr denn je brauche die Sowjetunion jetzt Licht.« Die Veränderung hängt in der Luft, auch wenn sie noch niemand greifen kann, an diesem Tag, als Michail Gorbatschow die Macht übernimmt. Das, wie das meiste im Buch, wird nicht direkt ausgesprochen, es ist nur aus jeder Zeile dieses leichtfüßigen, metaphorisch-poetischen und allegorisch-verspielten Textes spürbar.
Es ist ein verführerischer Tanz mitten in einer Kommunalka, einer von mehreren Familien geteilten Wohnung: Der Staub wirbelt, der Putz bröckelt von den Wänden, in der Küche mit mehreren nebeneinander stehenden Herden gibt es mal Tee und Süßes, mal Wodka mit sauren Gurken. Der uralte Bulgakow’sche Kater namens Gagarin streift durch die Zimmer. In einem davon leben die drei bzw. vier zentralen Figuren: Maria Nikolajewna, ihre Mutter Warwara und Marias junge Tochter Janka mit der kleinen Kroschka – was so viel wie Baby bedeutet. Ja, der Text sprießt nur von Anspielungen und sprechenden Namen. Es ist eine Hommage an die russische Literatur – Dostojewski, Tschechow, Turgenjew, Gontscharow, Pasternak, um nur einige zu nennen –, aber auch auf die sowjetische Undergroundmusik jener Zeit. Janka, die in der Kommunalka ein Hauskonzert geben soll, trägt nicht zufällig den Vornamen der legendären Punkmusikerin Janka Djagilewa – neben Igor Letow von Graschdanskaja Oborona eine weitere wichtige Figur der sibirischen Undergroundszene. Aber auch Boris Grebenschtschikow, Frontman der Leningrader Band Aquarium, Viktor Tsoi oder die Kultband DK hört man zwischen den Zeilen. Das sich dabei auch Menschen durch die Zimmerdecke ins All katapultieren, durchs Fenster nach Paris verschwinden, überrascht nicht weiter. Trauermarsch trifft auf Punk und es ist ein großes Konzert, virtuos, poetisch und absurd bis zum großen Finale.
Katerina Poladjan: Zukunftsmusik. Frankfurt/Main: S.Fischer. 192 S., 22 €