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Politik

»Sprich mit mir über den Krieg«

Autorinnen schreiben Briefe aus der Ukraine

  »Sprich mit mir über den Krieg« | Autorinnen schreiben Briefe aus der Ukraine

An dieser Stelle veröffentlicht kreuzer wöchentlich Briefe von Autorinnen aus der Ukraine. Elena Andreichykova berichtet von ihrer Flucht mit ihrem Sohn und wie sie sich danach sehnt, mit jemandem über den Krieg zu reden.

Brief von Elena Andreichykova

Elena Andreichykova ist Prosaistin, Übersetzerin, Dramaturgin. Bisher veröffentlichte sie einige Bände ironischer Kurzprosa sowie 2019 den Roman »Schatten im Profil« in russischer Sprache. Sie stammt aus Odessa, lebt in Kyjiw – und gerade in Istanbul.

»Bitte, sprich mit mir über den Krieg

Ich kriege Angst, wenn ich daran denke, wohin uns Schweigen führt. Und es wird uns an sein Ziel führen. Der Prozess ist unumkehrbar und die Folgen sind vorbestimmt. Kein Zweifel, dass unser Schweigen uns irgendwann von innen zerreißt, unser Hirn zerreißt, Lungen, Leber und das Herz, das müde ist, Todeszahlen und die Endgültigkeit von Nachrichten durch unseren Körper zu jagen. Schweigen zerreißt unsere Welt, die an einem dünnen Faden hängt. Ob er hält, darüber entscheidet jedes Gespräch, ganz gleich wie und wo es stattfindet: ob als Verhandlungen auf höchster Ebene oder als lautloses, letztes Bekenntnis in einem Luftschutzkeller. Und auch unser denkbares Gespräch ist entscheidend. Ferner Donner. Ja ja, das erinnert mich an den Schmetterling bei Bradbury: Es reicht aus, ihn zu berühren und die Welt wird nie mehr dieselbe sein.

Sprich mit mir.

Ich hab sonst niemanden zum Reden.

Ich darf mit niemandem reden.

Darum bitte ich dich.

Ich darf mit meinem Sohn nicht so reden, wie ich es jetzt brauche: ohne das Entsetzen und die Angst in meiner Stimme zu kontrollieren, ohne die verzweifelte Mimik und die schreienden Gesten zurückzuhalten. Ohne den Pessimismus der Konsonanten, die letzte Hoffnung der Vokale und die Hysterie der Ausrufezeichen. Das Innerste nach außen kehren vor meinem zehnjährigen Sohn, das darf ich nicht. Dabei hätte ich wirklich Lust, das verstehst du sicher.

Mein Sohn weiß leider schon viel über den Krieg.

Er weiß, was es heißt, am Donnerstag nicht vom Wecker, sondern von der Sirene geweckt zu werden.

»Mama, in unserem Schulchat schreiben sie, dass Krieg ist.«

Als er das Wort zum ersten Mal ausspricht, hüpft es leicht aus ihm heraus. Ohne Bewusstsein für seine Bedeutung, aber dies hält nicht lange an, gerade mal ein paar Stunden, die aus einem Jungen mit glücklicher Kindheit einen Kriegsjungen machen.

Er hat vom Krieg gehört, darüber gelesen, jemand hat ihm davon erzählt, aber der ferne, ausgedachte Krieg hatte für ihn keine Bedeutung.

Und weißt du was, ich habe seine Unwissenheit ausgenutzt. Als wir Kyjiw verließen, spielten wir virtuos ein Spiel: Wir sind Spezialagenten, wir müssen schnell packen und schnell aus der Stadt verschwinden. Am besten nicht über die Hauptverkehrswege, sondern über Nebenstraßen, Felder, bis nach Odessa, weil viele Hunderttausend weg wollen, aber der Tank nur halb voll ist.

Er hat mir geglaubt. Du weißt, bis zu einem gewissen Alter glauben alle Kinder ihrer Mama. Vielleicht glauben sie ihr auch immer. Zumindest hören sie ihr immer zu. Besonders Jungs.

Wir fuhren los.

Und fuhren lange bis Odessa, dann noch sehr, sehr viel weiter. Fünf Tage unterwegs, verschiedene Städte, Menschen, Länder, Hoffnungen. Jetzt sind wir in der Türkei. In Istanbul ist es still und ruhig, aber wir zittern jedes Mal, wenn ein Auto hupt, ein Feuerwerk gezündet wird oder ein Frühlingsgewitter beginnt.

Niemand weiß, wann wir wieder nach Hause können.

Aber ich denke die ganze Zeit daran, dass mein Sohn, wenn er groß ist, seinem Sohn davon erzählt, wie er den Krieg erlebte. Wie er mit seiner Mutter floh. Wie nicht alle seine Freunde fliehen konnten. Wie viele Kinder niemandem mehr etwas erzählen werden.

Sprich mit mir über den Krieg, ich hab sonst niemanden.

Meine Mutter ist auch hier bei uns, aber ich kann nicht über den Krieg mit ihr sprechen. Mit ihr kann ich scherzen, Essen machen, Gemüse für den Oliviersalat schneiden, in feine Quadrate, das lenkt ab, das beruhigt. Außerdem zwinge ich sie, Romane zu lesen, die wir dann diskutieren. Beliebiges Thema, nur Krieg ist tabu. Sie hat hohen Blutdruck, Herzrasen und Angst um ihre vielen Kinder und Enkel.

Sprich mit mir über den Krieg.

Wenn ich meinen Mann anrufe, reden wir nicht über den Krieg. Wir reden darüber, wie sehr wir einander vermissen, wie groß unser Sohn geworden ist, was wir nach unserem Sieg machen und wie lächerlich Medwedtschuk aussieht. Und wir reden über unseren Traum, einmal ein Segelboot zu kaufen und um die Welt zu fahren. Wir senden einander Bildchen von Booten und Jachten. Ich kann mit ihm nicht über den Krieg reden. Wir reden über alles, nur Krieg ist tabu.

Und mit meiner Freundin aus Butscha, die wie durch ein Wunder rauskam, nachdem sie tagelang fast ohne Essen und Trinken in ihrem Keller gesessen hatte, kann ich auch nicht über den Krieg reden. Sie ist jetzt in Österreich. Ihr Sohn hat angefangen zu stottern, aber darüber reden wir auch nicht. Wir reden übers Tanzen, wie wir später einmal die ganze Nacht durchtanzen. Und schicken einander aufmunternde Musik, darunter natürlich alle Versionen von »Oi u lusi tscherwona kalyna pochylylasja…« von Andriy Khlyvnyuk bis Pink Floyd.

Und überhaupt niemals mehr reden werde ich mit den Nachbarn dieser Freundin.

Ich will dir keine Angst machen.

Sprich einfach mit mir.

Wie lebst du so? Was macht dein Leben aus? Kannst du nachts ruhig schlafen, oder hast du Alpträume vom Atomkrieg? Frisst dich die Sorge um deinen Jungen auf, du hast schließlich auch einen, wir ähneln einander, wir würden einander verstehen, nicht wahr? Nährst du deine Ängste oder nähren deine Ängste dich?

Erinnerst du dich noch, wie es war, als du erfahren hast, dass du Mutter wirst? Wie du ihn ausgetragen hast, geboren, genährt? Erinnerst du dich an seinen ersten Schrei, seinen ersten Schritt? Wie war seine Kindheit? Warst du eine glückliche Mutter?

Erzähl doch, wie du seine Zukunft siehst. Wenn du eine siehst. Wie hättest du gern, dass er nach dem Krieg lebt? Hättest du überhaupt gern, dass er lebt? Erzähl.

Sag mir die Wahrheit. Ich weiß, dass der Krieg wie ein leichtes Mädchen auch an deine Tür geklopft hat. Auch nach deinem Jungen streckt sie ihre Arme aus, träumt von seiner Umarmung, träumt davon, eng umschlungen mit ihm den letzten Tanz zu tanzen, ihn der Welt zu entreißen, ihn dir, der Zukunft, dem Leben zu entreißen. Vielleicht singt sie ihr schreckliches Lied noch irgendwo in der Ferne, aber du hörst ihre Stimme, vielleicht spürst du auch schon ihren kalten, tödlichen Atem. Was tust du, um sie fern zu halten von deinem Haus? Ich bitte dich, schweig nicht, sieh nicht zur Seite, tu nicht so, als gäbe es mich, dich, deinen Sohn, als gäbe es die Hoffnung nicht.

Ich hab niemanden, mit dem ich über den Krieg reden kann, darum bitte ich dich. Lass uns diesen zarten kaum sichtbaren Schmetterling endlich berühren. Sprich mit mir über den Krieg, du Mutter eines russischen Jungen, du Mutter eines russischen Soldaten.« 

Aus dem Russischen von Jakob Walosczyk


»Der Krieg ändert das Vokabular. Er reaktiviert Wörter, die man bis dato nur aus historischen Romanen kannte. Vielleicht weil Krieg immer auch die Geschichte reaktiviert. Man kann sie sehen, schmecken, riechen. Meist riecht sie verbrannt«, schrieb der in Charkiw lebende Serhij Zhadan in seinem Band »Warum ich nicht im Netz bin« – es war 2014. Der Krieg fing an.

Der Krieg reaktiviert die Geschichte – auch ich habe schon an 1938/39 gedacht, an Sudetenland und Polen, an die Panzer in Prag 1968, an Jugoslawien... Seit dem 24.Februar führt Russland Krieg gegen die Ukraine. Einen zerstörerischen Krieg, der nicht zu begreifen ist. Einen Krieg, der – wie Zhadan schreibt –, auch die Farben verändert: »Für viele Menschen verschwinden ein für alle Mal die Schattierungen, plötzlich ist die Welt schwarz-weiß, fest umrissen, streng konturiert. Und auch die Sprache ist für viele plötzlich schwarz-weiß.« Das Schreiben verändert der Krieg auch. Relevant bleibt es nach wie vor, oder gar notwendig, so wie die Poesie als solche lebensnotwendig bleibt.

Wir haben Autorinnen aus der Ukraine gebeten, ihre Gedanken mit uns zu teilen. Einmal wöchentlich werden an dieser Stelle Briefe aus der Ukraine erscheinen. Ein besonderer Dank gebührt Jakob Walosczyk, vor kurzem noch DAAD-Lektor in Odessa, Übersetzer aus dem Polnischen, Ukrainischen und Russischen, der die Texte unserer Kolleginnen ins Deutsche überträgt.

Martina Lisa, kreuzer -Literaturredakteurin


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