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Politik

»Mein Glaube an das Gute ist stärker als meine Angst«

Autorinnen schreiben Briefe aus der Ukraine

  »Mein Glaube an das Gute ist stärker als meine Angst« | Autorinnen schreiben Briefe aus der Ukraine

An dieser Stelle veröffentlicht kreuzer wöchentlich Briefe von Autorinnen aus der Ukraine. Der Lyriker Mykhailo Zharzhailo ist von Kyjiw aufs Land geflohen.

Brief von Mykhailo Zharzhailo

Mykhailo Zharzhailo (geb. 1988) ist Lyriker und Performance-Künstler. Der aus Rivne stammende Autor experimentiert in den Bereichen Media Performance und Erasure Poetry. Bislang veröffentlichte er zwei Lyrikbände, er lebt in Kyjiw.

»Zuerst verlor ich meine Sprache. Nein, so nicht. Zuerst verlor ich die Fähigkeit, überhaupt etwas zu spüren. Nein, anders. So schreibt man keine Briefe. Aber wie schreibt man sie?

Am Anfang war das Wort, aber dann hat man versucht, es mir wegzunehmen. Es hat nicht funktioniert.

Ich gehöre zu denjenigen, denen es schwerfällt, über diesen Krieg zu sprechen. Dem 2014 vom Aggressor entfesselten Konflikt und der Besetzung der Krim »verdanke« ich Jahre, in denen ich mit psychischen Problemen und einer Angststörung zu kämpfen hatte. Genau das wollte der Feind erreichen: uns die Kräfte rauben, Zwietracht säen, die Möglichkeit ausschließen, dass wir die Wahrheit sagen. Das tat der Feind nicht erst in den letzten acht Jahren, sondern jahrhundertelang: Er legte Giftköder aus, die unsere Sprache und Identität ausmerzen sollten, ließ uns hungern und verfütterte zum Trost Märchen von seiner eigenen Größe an uns.  Diesen Lügen glaubte nicht nur unser Volk, dem der Schänder einen Vorwurf daraus machte, dass es sein Opfer war. Das vom Reich des Bösen gepredigte Narrativ wurde auf der ganzen Welt freudig konsumiert: So geht die Geschichte ganzer Generationen, so geht die Kontinuität von Unwissenheit oder Lüge. Der Feind war unauffällig und gut integriert. Wie ein Virus, der sich tief in dir verbirgt, und im Gewand scheinbar »unschuldiger« Ideen irgendwann in deinem Kopf ist. Der Feind bereitete sich vor, er verstand genau, was zu tun war. 

Mein verstorbener ukrainischen Großvater, der als Kind Stalins Holodomor überlebt hatte, und meine noch lebende jüdische Großmutter, die weiß, wie verächtlich einfache Russen auf Ukrainer und Juden blickten, die im 2. Weltkrieg nach Sibirien evakuiert worden waren, haben mir vieles erzählt. Und ich muss gar nicht weit suchen, um zu verstehen, wie sich die Geschichte wiederholt: Für meine ukrainische Muttersprache und meine Überzeugungen habe auch ich – hier in meiner Heimat – oft Prügel bezogen. Es gibt kein Mittel, um zu vergessen – also ist es unmöglich, darüber zu schweigen.

In den Jahren vor dem Krieg spannte sich die Lage in der Infosphäre immer weiter an. Auf dem Majdan musstest du, um gesehen zu werden, dein eigenes Plakat malen, dein Profilbild im Netz mit einem Rahmen versehen, dich selbst kommentieren. »Sie sind nicht zu hören, obwohl Sie sprechen«, ploppt in einem Dienst für Videokonferenzen auf, es erinnert die Nutzer daran, das Mikrofon einzuschalten. Und du schaltest das Mikrofon ein, aber noch immer hört man dich nicht, denn dir fehlt das Geld für die neuesten »Spezialeffekte«. Wie viele Ukrainer fühlte auch ich den Krieg kommen, wie die frustrierte Figur aus Sartres »Ekel«, die in ihrem Leben keinen Schritt vorankommt. Die Welt wächst mir förmlich aus der Schulter und schmerzt. Mir fällt bis heute nicht nur das laute Sprechen schwer, auch das Schreiben: Die Emotionen wandern am Sprachzentrum vorbei – sie kommen als Schmerzen hervor, als Krämpfe, sie füllen Orte mit Finsternis, wo man Helligkeit gewohnt ist.

Einige Monate vor dem Überfall, als in den Medien das Thema eines großen Krieges aufkam, wurde mir klar, dass ich keine Angst hatte. Trotzdem konnte ich noch immer nicht mit voller Kraft arbeiten. Ich hatte gerade einen Plan für mein weiteres Leben gefasst – da begann der Krieg. In den ersten Tagen nach dem 24. Februar, als ich mich in die Volontärstätigkeit stürzte und mir einredete, wenn es zum Schlimmsten käme, würde ich eine Waffe in die Hand nehmen, kam ich mir wie ein Held vor. Aber dann brachte ich es lediglich fertig, mich kraftlos dem Widerstand in der Infosphäre anzuschließen. Ich hing schlaff an der Klimmzugstange und mir wurde klar, dass ich mich besser auf mein eigenes Überleben – und das meiner Angehörigen – konzentrieren sollte. Mein Nachbar, viel athletischer als ich, sagte, dass nicht einmal er in die Territorialverteidigung eintreten durfte: Es gab mehr als genug Freiwillige. In meiner Mietwohnung in Kyjiw fiel mir ein hölzerner Kamm mit der Aufschrift »With Siberian Love« auf. Verzweifelt brach ich ihn entzwei und sagte dabei: Russland, du bist gestraft auf ewig.

Meine Freundin und ich hörten über unserem Haus Raketen fliegen. Wir sahen sie am Stadtrand explodieren. Wir gewöhnten uns an das Grollen von Artillerie und Flak. Bei uns wurde das Geld knapp, wir wussten nicht, wie wir in diesem emotionalen Ausnahmezustand unseren Lebensunterhalt verdienen sollten. Meine Fähigkeiten zur intellektuellen Arbeit, angegriffen von meinem geistigen Zustand in Friedenszeiten, erwiesen sich in dieser echten Stresssituation als gänzlich überfordert. Um zu uns zu kommen, verließen wir die Hauptstadt. Wir kamen nach Chmelnyzkyj im Westen des Landes (meine Freundin stammt von hier). Hofften, ihre Verwandten aus Isjum bei Charkiv würden sich bei uns melden und ebenfalls kommen. Vor einigen Tagen erreichte uns die Nachricht, dass sie bei einem Beschuss getötet wurden, noch als wir in Kyjiw waren.

Nach dieser Nachricht, wie auch nach Charkiv, Butscha, Irpin, Mariupol, verlor ich die Stimme, Schwindel packte mich. Lange machte ich mir Vorwürfe, dass ich schwieg, nicht einmal in der Infosphäre in den Kampf ziehen konnte. Zwei Monate sind vergangen. So lange dauerte es, bis ich aufhörte, mich dafür zu martern, dass ich zart und empfindsam bin. Dafür, dass ich lebe. Nicht sprechen kann nur der, der seine Sprache verloren hat. Mir hat es die Sprache nur verschlagen. Doch ich finde in mir die Kraft zu sprechen, meinen persönlichen Umständen zum Trotz. Ich strenge mich an: Mein Glaube an das Gute ist stärker als meine Angst. Ich erlange meine Sprache wieder. Ich habe die Stummheit überwunden und spreche aus der Leere. 

Und du, kannst du sprechen? Ich weiß, dass du es kannst, mein Freund. Ich glaube an dich!«

Aus dem Ukrainischen von Jakob Walosczyk

Foto: Yosyp Husak


»Der Krieg ändert das Vokabular. Er reaktiviert Wörter, die man bis dato nur aus historischen Romanen kannte. Vielleicht weil Krieg immer auch die Geschichte reaktiviert. Man kann sie sehen, schmecken, riechen. Meist riecht sie verbrannt«, schrieb der in Charkiw lebende Serhij Zhadan in seinem Band »Warum ich nicht im Netz bin« – es war 2014. Der Krieg fing an.

Der Krieg reaktiviert die Geschichte – auch ich habe schon an 1938/39 gedacht, an Sudetenland und Polen, an die Panzer in Prag 1968, an Jugoslawien... Seit dem 24.Februar führt Russland Krieg gegen die Ukraine. Einen zerstörerischen Krieg, der nicht zu begreifen ist. Einen Krieg, der – wie Zhadan schreibt –, auch die Farben verändert: »Für viele Menschen verschwinden ein für alle Mal die Schattierungen, plötzlich ist die Welt schwarz-weiß, fest umrissen, streng konturiert. Und auch die Sprache ist für viele plötzlich schwarz-weiß.« Das Schreiben verändert der Krieg auch. Relevant bleibt es nach wie vor, oder gar notwendig, so wie die Poesie als solche lebensnotwendig bleibt.

Wir haben Autorinnen aus der Ukraine gebeten, ihre Gedanken mit uns zu teilen. Einmal wöchentlich werden an dieser Stelle Briefe aus der Ukraine erscheinen. Ein besonderer Dank gebührt Jakob Walosczyk, vor kurzem noch DAAD-Lektor in Odessa, Übersetzer aus dem Polnischen, Ukrainischen und Russischen, der die Texte unserer Kolleginnen ins Deutsche überträgt.

Martina Lisa, kreuzer -Literaturredakteurin


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