Professorin Anna Artwińska vom Institut für Slavistik und PD Dr. Jan Gerber vom Leibniz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur – Simon Dubnow (Dubnow-Institut) haben eine Ringvorlesung zur ukrainischen Literatur, Kultur und Geschichte initiiert. Ein Gespräch über Wissenslücken, Klischees und Nachholbedarf.
kreuzer: Mit dem russischen Überfall auf die Ukraine wurde auch eine ziemlich große Wissenslücke deutlich. Warum wussten und wissen wir so wenig über die Ukraine?
Jan Gerber: Ich möchte zwei wesentliche Gründe dafür nennen. Zum einen gibt es hierzulande ganz allgemein nur ein geringes Interesse am östlichen Europa, zum anderen ist die Wahrnehmung noch immer von der Existenz der Sowjetunion geprägt. Die Sowjetunion wurde oft mit Russland gleichgesetzt, die anderen Sowjetrepubliken erschienen als Provinz oder als Zwischenstation auf dem Weg nach Moskau. Diese Vorstellung hat sich auch über das Ende der Sowjetunion hinaus fortgesetzt: Die Ukraine wurde lange Zeit weiterhin als Provinz Moskaus wahrgenommen. Das heißt, es gibt nur wenig Wissen über die Ukraine – und das Bild, das es gibt, ist oft falsch oder verzerrt.
Anna Artwińska: Das mangelnde Wissen ist meines Erachtens nicht nur ein Problem der Gesellschaft, es lässt sich auch im universitären Kontext beobachten. In ganz Deutschland gibt es lediglich in Greifswald und Frankfurt/Oder eine Professur für die Ukrainistik. Das Fach wurde lange nicht als eigenständige Disziplin wahrgenommen, die Expertise zur Literatur, Kultur und Geschichte der Ukraine wurde nicht genug nachgefragt und gefördert. Und wir sprechen vom zweitgrößten Land Europas!
Etwas zynisch könnte man sagen, dass es solche tragischen Ereignisse braucht, um das öffentliche Interesse zu wecken, das zeigte sich im Falle der Ukraine bereits 2014.
Artwińska: Das ist leider so, dass es Krisen braucht – das beschreibt der Osteuropahistoriker Karl Schlögel in seinem Essay »Lob der Krise. Die Ukraine und die Sprachlosigkeit der Historiker«, in dem er sich mit den Auswirkungen des Kriegs im Donbas auf unsere Wahrnehmung der Ukraine beschäftigt. »Lob« ist hier in dem Sinne zu verstehen, dass häufig erst eine Krise es schafft, unseren Blick für bestimmte Ereignisse zu schärfen oder sogar die Perspektive zu verändern. Man kann den 24. Februar 2022 deswegen durchaus als den ukrainischen 9/11-Moment bezeichnen.
Gerber: Dem Krisenhaften wohnt dieses Erweckungsmoment sicherlich inne. Es wird durch die Funktionsweise von Massenmedien noch verstärkt – meist ist erst die Krise berichtenswert.
Artwińska: Ich befürchte nur, dass dieses gestärkte Interesse nicht von langer Dauer sein wird.
Gerber: Genau das befürchte ich auch. Es zeigt sich schon jetzt, dass die anfängliche Aufmerksamkeit für die Ukraine deutlich nachlässt. Aufmerksamkeit, die kurzfristig durch eine Krise entsteht, verschwindet eben oft auch schnell wieder. Das war auch einer der Gründe dafür, warum wir die Ringvorlesung geplant haben: Wir wollten einen Beitrag zu einer längerfristigen Beschäftigung leisten.
Die zweisemestrige Ringvorlesung trägt als Motto eine Zeile von Serhij Zhadan: »Wir halten es für fahrlässig, zu schweigen«. Worüber wollen Sie konkret sprechen?
Artwińska: Das Zitat stammt aus dem Gedichtband „Antenne“ von Serhij Žadan, der 2018 auf Ukrainisch und 2020 auf Deutsch in einer wunderbaren Übersetzung von Claudia Dathe erschienen ist. Die Gedichte in diesem Band sind poetische Dokumente über den Krieg; sie konfrontieren uns aber auch mit der Frage, was das geschriebene Wort in Zeiten der veränderten Ordnungen leisten kann. Als Wissenschaftler:innen mit Osteuropabezug wollten wir mit der Ringvorlesung einen Raum für das Gespräch über die ukrainische Literatur und Kultur schaffen. Wir wollen über ukrainische Autor:innen, über Prozesse der Identitätsbildung in der Ukraine, aber auch über die Bilder der Ukraine in anderen Kulturen sprechen.
Gerber: Darüber hinaus wollen wir auch die jüdischen Traditionen in den Fokus rücken, denn es ist allgemein nur wenig bekannt, dass das Gebiet der heutigen Ukraine bis zum Holocaust zu den zentralen jüdischen Siedlungsgebieten gehörte. Auf dem Gebiet der Ukraine entstand etwa der Chassidismus; in der Ukrainischen Volksrepublik, die zwischen 1917 und 1920 bestand, war Jiddisch neben dem Ukrainischen und dem Russischen eine der drei Amtssprachen. In vielen Städten gab es eine jüdische Mehrheit, insgesamt war bis zum Holocaust etwa ein Drittel der Stadtbevölkerung jüdisch.
Bei dem Eröffnungsvortrag sprach Kerstin Preiwuß vom Deutschen Literaturinstitut unter anderem darüber, dass in der Vergangenheit viel mehr über die Ukraine als mit den Ukrainerinnen gesprochen wurde.
Artwińska: Ich möchte betonen, dass es nicht unbedingt schlecht sein muss, wenn man sich aus der Außenperspektive mit der Ukraine beschäftigt. Dies muss nicht automatisch einen imperialen Zugang bedeuten oder eine orientalisierende Perspektive implizieren. Als Osteuropawissenschaftler:innen sind wir da schon sehr auf der Hut. Und aus diesen Gründen war es uns auch wichtig, eine Podiumsdiskussion mit geflüchteten ukrainischen Wissenschaftler:innen in die Ringvorlesung zu integrieren, die am 7. Juli stattfinden wird.
Gerber: Mit Natasha Gordinsky aus Haifa, Brett Winestock, der in Stanford promoviert hat und zur Zeit am Dubnow-Institut arbeitet, und Roman Dubasevych, der aus der Ukraine kommt und derzeit Juniorprofessor für Ukrainische Kulturwissenschaft in Greifswald ist, konnten wir das Spektrum der Vortragenden darüber hinaus auch noch deutlich erweitern.
Die Ringvorlesung will nicht ausschließlich akademisches Publikum ansprechen. Wie steht es aus Ihrer Sicht um das Interesse an ukrainischer Sprache, Kultur und Literatur?
Artwińska: Die letzten Evaluationen des Studiengangs Ostslawistik zeigen, dass es unter den Studierenden einen großen Wunsch nach mehr Auseinandersetzung mit der Ukraine und Belarus gibt. In den deutschen Buchhandlungen gibt es eine gute Auswahl an deutschen Übersetzungen der ukrainischen Literatur. In deutschen Schulen lernen Kinder, die aus der Ukraine stammen. Das ist schon ein guter Ausgangspunkt.
Die Studierenden Ihres Instituts, Frau Artwińska, haben letztes Jahr zusammen mit Studierenden der Universität in Lwiw eine Anthologie der ukrainischen Gegenwartsliteratur mit dem Titel »Zwischen Apokalypse und Aufbruch« übersetzt und herausgebracht. Welche Rolle spielen solche Projekte für das gegenseitige Verständnis?
Artwińska: Solche Projekte leisten einen enormen Beitrag für die interkulturelle Kommunikation. Die Studierenden der Slawistik sind zusammen mit dem Leiter des Projekts, Dr. Christian-Daniel Strauch, nach Lwiw gefahren, haben sich dort mit den ukrainischen Kommilitonen getroffen und gemeinsam an den Übersetzungen gearbeitet. Dabei haben sie u.a. gemerkt, dass man mit Russisch in der Ukraine nicht immer und überall weiterkommt.
Gerber: Auch hier wird noch einmal deutlich, wie stark der Blick auf das östliche Europa lange Zeit über Russland vermittelt war, selbst dort, wo es ein ehrliches und aufrichtiges Interesse an der Ukraine gab. Darüber hinaus findet sich sowohl in fachwissenschaftlichen Kreisen als auch in der Öffentlichkeit manchmal noch das, was der Historiker Gerd Koenen einmal als »Russland-Komplex« bezeichnet hat. Das soll heißen, dass sich das deutsche Verhältnis zu Russland oft in einem Spannungsverhältnis von Ablehnung und Faszination bewegt, die sich mal offen, mal versteckt artikuliert. Dieser »Russland-Komplex« dürfte sich in kodierter Form auch in die aktuellen politischen Diskussionen hinein fortsetzen, etwa in so fragwürdigen Reaktionen auf den russischen Angriffskrieg wie in dem »Offenen Brief der 28«. (Gemeint ist ein offener Brief an Olaf Scholz, in dem gefordert wird, keine schweren Waffen an die Ukraine zu liefern.)
Artwińska: Eine scharfsinnige Kritik dieses Briefes hat im »Spiegel« der polnische Autor Szczepan Twardoch verfasst. Ich wünschte, sie würde hierzulande breiter diskutiert.
Das komplette Programm der Ringvorlesung finden Sie: hier. Die Anthologie »Zwischen Apokalypse und Aufbruch. Der Donbas-Krieg in ukrainischer Krisenliteratur«, erschien 2021 bei Edition Hamouda in Leipzig.