Viktor Baraboj kam 1993 als jüdischer Kontingentflüchtling aus der Ukraine nach Deutschland. Er ist Arzt und sieht aus der Ferne seine Heimat im Krieg. In Leipzig lernt er den Journalisten Marco Brás dos Santos kennen – beide fahren im April gemeinsam nach Kiew. Wenige Tage nach ihrer Rückkehr sprechen sie mit dem kreuzer, per Zoom, weil Viktor nicht in Leipzig lebt. Bei Fragen ringt er öfter nach Worten, die Verbundenheit zu den Menschen, die beide in Kiew getroffen haben, ist deutlich zu spüren. Notiz am Rande: Die beiden Männer duzen sich, mein Kollege Marco und ich ebenfalls, weshalb auch dieses Interview nicht siezt.
Viktor, was für ein Verhältnis hast du zur Ukraine, nachdem du bereits seit 30 Jahren in Deutschland bist?
VIKTOR BARABOJ: Es ist nach wie vor mein Heimatland. Ich bin zwar in Deutschland voll integriert, wie man das schön sagt. Aber meine engsten Freunde sind in der Ukraine. Meine Frau kommt aus der Ukraine. Ich habe dort einen Sohn aus erster Ehe. Und wir sind durchschnittlich zweimal im Jahr dort.
… auch in den letzten beiden Jahren?
BARABOJ: Es hat sich wegen der Pandemie ein bisschen relativiert. Aber das letzte Mal war ich im Sommer 2021. Das ist also noch kein Jahr her.
Wie war es denn, von hier aus diese Entwicklung hin zu diesem Krieg zu beobachten? Die hat ja schon mit den Ereignissen vom Maidan 2013/14 angefangen.
BARABOJ: Wir haben es damals nicht geschafft, rechtzeitig selbst nach Kiew zu kommen, um an den Maidan-Geschehnissen teilzunehmen. Im Nachhinein ist es wahrscheinlich auch gut so, aber meine engsten Freunde und Familienmitglieder waren ein Teil der Bewegung und so hatten wir Informationen aus erster Hand. Wir sind zwei Wochen, nachdem die schlimmsten Geschehnisse bereits vorbei waren, doch nach Kiew und haben den Maidan noch in der Pracht des Aufstandes erlebt.
Wie hast du danach die Stimmung wahrgenommen?
BARABOJ: Es ist ein bisschen schwierig, mich so weit zurückzuversetzen. Ich weiß noch, dass in den Medien, besonders in den russischen Medien, die Diskussion geführt wurde, ob diese Bewegung irgendwie von außen initiiert wurde oder ob es tatsächlich eine Bewegung von unten war. Ich kann die zweite Sichtweise vollkommen bestätigen. Ich habe keinerlei Hinweise darauf, dass mir bekannte Menschen von außen beeinflusst wurden. Was ich mitbekommen habe, spricht dafür, dass es eine spontane Bewegung war, die sich sehr schnell motiviert und organisiert hat. Die Stimmung war ein Gemisch aus Stolz, Wut und Trauer. Stolz über eigene Stärke, Wut über Janukowytsch (gemeint ist der damalige ukrainische Präsident Wiktor Janukowytsch, Anm. d. Red.) und seine Anhänger, Trauer um die Gefallenen.
Wie war das jetzt Ende Februar, als der Krieg begann?
BARABOJ: Wie die allermeisten bin ich aus allen Wolken gefallen, als es tatsächlich angefangen hat. Ich habe nicht geglaubt, dass das möglich ist. Ich war der Meinung, dass es mit einer Machtdemonstration enden würde. Nun, wie alle anderen, lag ich damit falsch. Ich hatte das Gefühl, dass ich irgendwie in eine Parallelwelt gerutscht bin. Dieses Gefühl hat sich interessanterweise wiederholt, als Marco und ich jetzt in Kiew waren.
Nach diesem Raketenanschlag, den wir erlebt haben, zum Beispiel: Gerade läuft man noch eine normale, gepflasterte Straße runter, und dann gerät man in eine Art Dystopie. Als wenn plötzlich alle Farben verschwinden und es nur noch nach Schwarzpulver riecht. Und es brennt, und Menschen liegen auf der Straße, und du selbst kommst quasi aus der normalen Welt. Genau so war das auch zum Beginn des Krieges.
Warum hast du die Entscheidung getroffen, nach Kiew zu fahren?
BARABOJ: Ich hatte von Anfang an das Gefühl, dass ich dorthin gehöre. Ich konnte mir aber auf Anhieb nicht erlauben, hinzufahren. Ich bin der Alleinverdiener, mein jüngster Sohn ist schwer behindert. Ich konnte meine Frau und mein Kind nicht einfach allein lassen. Außerdem haben wir nur ein Auto, deshalb konnte ich es nicht für die Fahrt in die Ukraine nehmen. Dann war ich in Leipzig, denn meine ältere Tochter lebt hier. Sie hat Marco und mich zusammengebracht: Es gab da also einen Journalisten, der in die Ukraine wollte, aber kein Wort Ukrainisch sprach. Und dann gab es eben einen, der schon lange in die Ukraine wollte und fließend Ukrainisch spricht. Wir haben uns kennengelernt und eine Woche später sind wir losgefahren.
Jetzt auch an dich, Marco, die Frage: Ihr habt ja beide gesagt, dass es wichtig ist, über den Krieg in der Ukraine zu berichten. Warum? Ist es nicht voyeuristisch?
MARCO BRÁS DOS SANTOS: Ich muss dazu sagen, 2014 habe ich überhaupt nicht wahrgenommen. Maidan, Ukraine, das war alles ziemlich weit weg. Aber dieses Mal hat mich das irgendwie sehr bewegt. Wir haben in Leipzig viele Projekte angestoßen, haben Geflüchtete begleitet, die Wohnungsvermittlungs-Plattform im Linxxnet mit aufgezogen. Es hat mich von Anfang an emotional sehr bewegt und ich hatte das Gefühl, ich muss irgendwas machen. Und da ich mich weniger als Aktivist, mehr als Journalist verstehe, fand ich es für mich persönlich wichtig, mir ein Bild zu machen, weil die Nachrichtenlage sehr diffus wirkte. Im Gegensatz zu großen Medienhäusern habe ich im Lokaljournalismus die Erfahrungen gemacht, dass man da noch mal anders dran ist. Es lässt sich vieles anders transportieren und aus einem anderen Blickwinkel einfangen.
BARABOJ: Journalismus kann man ja immer voyeuristisch finden. Man kann sich immer fragen: Was geht mich das an? Gucke ich gerade in einen Privatbereich von anderen Menschen? Kriegsberichte sind sicherlich nicht voyeuristischer als andere journalistischen Berichte. Ich habe mir von der Reise keine neuen Erkenntnisse erwartet. Aber ich muss sagen, auch für mich als Ukrainer war einiges ganz überraschend, unerwartet und wunderbar.
... nämlich?
BARABOJ: Zu erleben, wie sich die Menschen in einer extrem schwierigen Lage organisieren und sich dabei immer menschlich verhalten. Und zwar in einem Ausmaß, welches das ganze Land umfasst. Das war ein sehr bereicherndes Erlebnis.
Wie waren die Reaktionen auf euch, vor allem auf dich, Marco, wenn du gesagt hast, dass du Journalist aus Deutschland bist?
BRÁS DOS SANTOS: Sehr herzlich, ein bisschen überrascht. Dankbar und offen. Wir haben auch oft gehört: »Wir sind transparent. Es ist wichtig, dass die Welt erfährt, was hier passiert. Wir haben nichts zu verbergen«, und das bei menschlichen Begegnungen, aber auch strukturell. Denn auch sämtliche Militärs haben sich sehr bemüht, das Rechtsverständnis hochzuhalten.
Wie war es für euch, dann wieder in Deutschland anzukommen?
BARABOJ: Das tatsächliche Risiko dort war gar nicht so hoch. Wir haben es wahrscheinlich anders empfunden, aber in der Tat haben wir eher wahnsinniges Glück gehabt. Wir haben die einzigen zwei Raketen auf Kiew während der ganzen zwei Wochen, die wir dort waren, unmittelbar miterlebt. Als wir schon zurückgefahren sind und in Polen waren, hat uns eine Nachricht erreicht, dass auf derselben Strecke, die wir gefahren sind, ein Bus mit einem LKW zusammengestoßen ist und 27 Tote zu beklagen waren. Das ist ein wesentlich höheres Risiko, als von einem Raketenangriff verletzt zu werden.
Aber das Gefühl ist natürlich ein anderes. Wir waren erleichtert, nachdem wir die Grenze überquert haben.
BRÁS DOS SANTOS: Ich habe mich gefühlt, wie ein Hund und wie ein Verräter – da war dieses Gefühl, Menschen einfach zurückzulassen.
Ihr habt beide noch Kontakt in die Ukraine, wie sieht der aus?
BARABOJ: Ich muss bis Ende Mai arbeiten. Im Juni habe ich aber frei und je nach Situation und Bereitschaft von Marco gehe ich davon aus, dass es nicht das letzte Mal war, dass wir in der Ukraine waren.
BRÁS DOS SANTOS: Ich bleibe den Ukrainern und den Menschen in Kiew auch als Lokaljournalist solidarische erhalten und springe sofort ins Auto, wenn sich eine konkrete Gefahr abzeichnet. Wir stehen in ständigem Kontakt mit Menschen dort und es gibt einen Austausch über kulturelle Projekte. Ich denke, medial und kulturell werden sich die Bande durch den Krieg noch verstärken und wir wirken auf jeden Fall daran mit. Solidarität heißt ja nicht nur Waffenlieferungen und Geld, sondern, wie ein Interviewpartner sagte: kultureller Austausch.
BARABOJ: So ist es. Ich habe immer wieder den Eindruck, dass in Deutschland nicht ganz verstanden wird, worum es bei diesem Konflikt geht. Wenn der Ukraine nicht effektiv geholfen wird, wird sich, vermute ich, ein Zustand ähnlich wie Nord- und Südkorea etablieren, eine Demarkationslinie mit nicht abgeschlossenen Kriegshandlungen. Dieser Konflikt bleibt nicht lokal. Ich fürchte, dass ganz Europa in diesem Szenario zum Austragungsort der Konflikte werden kann. Abgesehen von wirtschaftlichen und sozialen Folgen. Der einzige hinnehmbare Weg ist meines Erachtens, nur ein vollkommener Sieg der Ukraine. Und dafür sind die Lieferungen schwerer Waffen unabdingbar. Angriffswaffen, mit denen die Russen zurückgeschlagen werden können und die auch russisches Territorium erreichen.
BRÁS DOS SANTOS: Ich bin bei der Frage der Waffenlieferung gespalten. Die Frage von Solidarität kann von Deutschland auf vielen Ebenen ausgedrückt werden. Ich denke, ein respektvoller Umgang mit Russland sollte nach wie vor möglich sein. Eine Interviewpartnerin, die in Butscha gewesen ist, hat gesagt: »Hass erzeugt Gegenhass. Und Gewalt erzeugt Gegengewalt. Das kann langfristig nicht die Lösung sein. Wir haben jetzt ein konkretes Problem, das wir lösen müssen. Aber langfristig müssen wir global denken und auch an dieser Lösung arbeiten«. Ich fand es sehr schön, dass trotz dieser Not, die herrscht, noch der Großmut da ist, weiter zu denken und nicht in Hass zu verfallen.
BARABOJ: Es gibt auch gute Beispiele aus der Geschichte. Die ersten Kontakte zwischen Deutschland und Frankreich entstanden, glaube ich, zwei Jahre nach dem Ende des zweiten Weltkrieges und an diesem Beispiel zeigt sich, dass ein Zusammenleben möglich ist.
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