Sommer, Sonne, Strand – und dazu ein gutes Buch. Egal, ob Sie nun bald Ihre Koffer für die Ferienreise packen oder sich mit Handtuch und Hängematte auf den Weg zum Cossi machen: Mit Büchern lässt es sich überallhin reisen und die CO2-Spur dabei bleibt überschaubar. Mit den aktuellen Leseempfehlungen der Literaturredaktion können Sie gleich mehrere Länder literarisch erkunden. Der Weg wird nicht immer ganz bequem sein, aber das gehört zum Reisen dazu, und umso eindrücklicher sind die Erlebnisse. Eine gute Lesereise!
BOSNIEN: Der Körper einer Kriegerin
Senka Marić erzählt in »Körper-Kintsugi« von Brustkrebs und Lebenslust
In der traditionellen japanischen Kunsttechnik Kintsugi wird Zerbrochenem neues Leben eingehaucht: Kaputte Keramik wird mit flüssigem Gold repariert, die beschädigten Stellen dabei jedoch nicht kaschiert, sondern hervorgehoben. Erst die Brüche machen sie schöner. So auch in dem autobiografisch geprägten Roman der bosnischen Lyrikerin Senka Marić – in dem ihre Protagonistin gegen Krebs kämpft und darum, sich vollständig zu fühlen.
Senka Marić sucht nach Worten, die zwar »Anker sind, die ermöglichen, dass sich die Wirklichkeit nicht auflöst«, doch zugleich weiß sie um ihre Begrenztheit. Der weibliche Körper, um den es hier geht, verändert sich, zerfällt, um immer neu zusammengeklebt zu werden. Zwischen Erinnerungen an das Heranwachsen als junge Frau in einer gewaltvollen patriarchalen Gesellschaft durchläuft die Protagonistin jede Etappe dieses schmerzhaften Prozesses – und stemmt sich gegen die Angst, aber auch gegen die ihr zugedachte Rolle. Es geht um Tabus und Scham, aber auch eine enorme Widerstandskraft, die sie auch aus den Begegnungen mit den mythischen Frauen Medea, Medusa und Penthesilea schöpft. Senka Marićs Roman ist eine vielschichtige, literarische Auseinandersetzung mit dem Thema Brustkrebs, eine berührende, mutmachende Lektüre weit weg von Mitleid oder Heldinnentum.
MARTINA LISA
Senka Marić: Körper-Kintsugi. Aus dem Bosnischen von Marie Alpermann. Berlin: Eta Verlag 2021, 158 S., 19,90€
PALÄSTINA: Kurz und schmerzhaft
Adania Shiblis Roman »Eine Nebensache«
Nein, als Strandkorblektüre eignet sich »Eine Nebensache« definitiv nicht. Doch wer Literatur nicht nur als Wellnessangebot betrachtet, kann Adania Shiblis kurzen Roman immer und überall mit Gewinn (wenn auch nicht mit Vergnügen) lesen.
Im ersten Teil erschießen israelische Soldaten 1949 in der Negev-Wüste eine Gruppe Beduinen, nehmen ein überlebendes Mädchen gefangen, das sie vergewaltigen und ebenfalls ermorden. Im zweiten Teil versucht eine junge Palästinenserin, deren Schicksal auf geheimnisvolle mit dem des Mädchens verknüpft ist, mehr über das Verbrechen herauszufinden. Allerdings darf sie sich nicht frei im eigenen Land bewegen und nimmt daher für ihre Recherchen eine fremde Identität an. Auch diese zweite Geschichte endet, man ahnt es, nicht gut. Gerade Shiblis Verzicht auf jegliches Pathos und die fast schon schmerzhaft nüchterne Erzählweise machen »Eine Nebensache« zu einem atmosphärisch unerhört dichten und zutiefst berührenden Roman, der seine Leserinnen und Leser auch nach der Lektüre noch lange beschäftigt.
OLAF SCHMIDT
Adania Shibli: Eine Nebensache. Aus dem Arabischen von Günther Orth. Berlin: Berenberg Verlag 2022. 120 S., 22 Euro
SÜDKOREA: Für Selbstbestimmung im Leben und im Sterben
Kim Hye-Jins »Tochter« erzählt von Mut, Menschlichkeit, Solidarität und Widerstand
Auch der literarische Ausflug nach Südkorea bietet keine Entspannung bei Cocktails am Strand, eine lohnende Lektüre dafür allemal. Wir tauchen damit in eine Welt ein, geprägt von sturen Traditionen und einer Höflichkeit, die zum Schweigen und Augenverschließen erzieht, eine, in der mensch sich fügt. So sieht es auch die Mutter, aus deren Perspektive erzählt wird. Eine fügsame, liebevolle Altenpflegerin, die ein schlichtes, unauffälliges, ein aus ihrer Sicht »normales« Leben führt, und sich nichts seliger wünscht, als dass auch ihre Tochter sich endlich fügt. Green ist über dreißig, ohne Mann und Kind, sie lebt mit einer Frau zusammen, arbeitet in prekären Verhältnissen als freie Dozentin an der Uni, und ist dazu noch laut und aufmüpfig. Als das Paar in finanzielle Schwierigkeit kommt und bei der Mutter einzieht, prallen die beiden Lebensrealitäten aufeinander. Die Mutter ringt. Mit sich, mit ihren Wert- und Weltvorstellungen, mit dem Leben ihrer Tochter und deren Partnerin. Dass sie sich schließlich öffnet, kommt jedoch durch ihre eigene prekäre Arbeitssituation. Jetzt wird auch sie aufmüpfig, widersetzt sich und kämpft für einen würdevollen Umgang mit ihrer Patientin, bis zum Schluss – und findet so langsam auch Verständnis für das Leben ihrer Tochter.
MARTINA LISA
Kim Hye-Jin: Die Tochter. Aus dem Koreanischen von Ki-Hyang Lee. Berlin: Hanser Berlin 2022, 176 S., 20€
KASACHSTAN: Vom Leben in der atomaren Zone
Hamid Ismailovs »Wunderkind Erjan«
Die letzte Sommerfahrt führt in die kasachische Steppe, zu Erjan – einem 27-jährigen Mann, gefangen im Körper eines Zwölfjährigen. Auf einer Zugreise durch die karge Steppenlandschaft macht er mit seinem wunderbaren Violinspiel auf sich aufmerksam und beginnt zu erzählen.
Seine Familie bewohnt eine einsame Bahnstation inmitten der Steppe, unweit der so genannten »Zone«, in der sich ein Atomwaffentestzentrum befindet. Die Bewohner der Region erleben die dortigen Explosionen als unvorhersehbares vages Grauen, dem sie glauben, ausgeliefert zu sein. Erjans Schicksal, die Geschichte seiner Liebe und seine Lebensumstände innerhalb archaischer Familienstrukturen sind untrennbar verbunden mit der Ideologie des sowjetrussischen »Fortschrittsglaubens«, dem individuelle Schicksale unter Umständen rücksichtslos geopfert wurden. Den historischen Hintergrund des Romans bilden die in Kasachstans Steppen zwischen 1949 bis 1989 ausgelösten Kernexplosionen auf dem Atomwaffentestgelände von Semipalatinsk. In der Summe übertraf die Sprengkraft der überirdisch in besiedelter Landschaft gezündeten Kernwaffen die der 1945 auf Hiroshima abgeworfenen Bombe um das 2500fache. Ein bewegender Roman, dessen Autor seit 1992 im Exil lebt – in seiner Heimat Uzbekistan sind seine Werke verboten.
ANJA KLEINMICHEL
Hamid Ismailov: Wunderkind Erjan. Aus dem Russischen von Andreas Tretner. Berlin: Matthes & Seitz. 2022.152 S., 20 €