Die Leipziger Lyrikerin Andra Schwarz im Interview über ihre Eindrücke vom Meridian-Literaturtreffen in der ukrainischen Stadt Czernowitz/Tscherniwzi.
Das Wort Meridian sei nicht nur ein geografischer, sondern auch ein philosophischer Begriff und eng mit der Literatur verbunden, meinte der in Czernowitz/Tscherniwzi geborene Paul Celan in seiner Büchner-Preisrede von 1960. In der westukrainischen Stadt Tscherniwzi, die gern die geheime Literaturhauptstadt Europas genannt wird, ist seit dreizehn Jahren das internationale Lyrikfestival Meridian Czernowitz beheimatet. Trotz des Krieges oder besser: dem Krieg zum Trotz fand es in diesem Jahr wie gewohnt am ersten Septemberwochenende statt – allerdings bewusst nicht als Festival, sondern als »Das Meridian-Treffen für die ukrainischen Streitkräfte«. Auch die Leipziger Lyrikerin Andra Schwarz war dabei – und sprach kurz nach ihrer Rückkehr mit dem kreuzer über ihre unmittelbaren Eindrücke.
Haben Sie gezögert, als Sie angefragt wurden, ob Sie nach Tscherniwzi kommen wollen?
Keine Sekunde. Ich wollte zuerst auf die Einladungsmail des Literarischen Colloquiums Berlin antworten, habe dann aber sofort zurückgerufen und zugesagt.
Warum war es Ihnen wichtig, hinzufahren und am diesjährigen Literaturtreffen teilzunehmen?
Ich wollte schon im Sommer in die Ukraine reisen, um dort meine Freunde zu besuchen, musste aber unterwegs wegen der Raketenangriffe in der Region Lwiw die Reise abbrechen. Als die Anfrage kam, eröffnete es mir die Möglichkeit, doch noch in die Ukraine zu fahren – und zudem verbunden mit meiner Profession als Lyrikerin, zu einem Festival, das ich schon lange im Blick hatte.
Wie würden Sie die Atmosphäre vor Ort beschreiben? Wie war das Interesse des Publikums unter solchen Umständen?
Ich war erstaunt, wie gut das Literaturtreffen organisiert war, denn es war lange unklar, ob es wegen des Krieges überhaupt stattfinden kann. Es gab tatsächlich sehr viele Besucherinnen und Besucher. Ich denke, gerade durch diese besondere Situation sind sehr viele, auch sehr junge Menschen zu den Veranstaltungen gekommen. Die Gespräche und Lesungen mit den ukrainischen Autorinnen und Autoren waren alle voll, es gab großes Interesse und das Bedürfnis nach Austausch.
Meridian ist ja ein internationales Treffen – wie begegnet man einander mitten im Krieg?
Ich habe bei mir eine Art Sprachlosigkeit bemerkt, weil ich die Erfahrung des Krieges nicht teilen kann, und es mir dadurch schwerfiel, in Kontakt mit den ukrainischen Autorinnen und Autoren zu gehen. Die internationalen Gäste aus Ländern wie Deutschland, Tschechien, Israel und der Schweiz blieben etwas mehr unter sich. Die ukrainischen Kolleginnen und Kollegen haben dieses Treffen auch dafür genutzt, um sich auszutauschen, Verbindungen zu schaffen und zu stärken, die jetzt enorm wichtig sind. Ich empfand es auch als Ausdruck der Höflichkeit, da etwas auf Distanz zu gehen.
Mit welchen Eindrücken oder Gefühlen haben Sie die Ukraine verlassen?
Es waren sehr eindrückliche fünf Tage, schon allein die Reise, denn es gibt keine Direktflüge in die Ukraine. Wir wurden in Rumänien am Flughafen abgeholt und über die Grenze gebracht... Schon diese aktuelle Grenzsituation zu erleben... da habe ich sehr viele Bilder im Kopf, die diese Tragik der Einzelnen, aber auch des ganzen Landes vorführen. Für mich war es sehr schwer, zurückzukommen und zu merken, wie wenig hier die Privilegien, die wir genießen, geschätzt werden und dass die Menschen mit der Dauer des Krieges immer müder werden und mehr mit sich und ihren eigenen Problemen beschäftigt sind. Das löst in mir eine große Distanz aus, macht mich aber auch traurig und zugleich wütend.
Foto: Julia Weber