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Politik

Potpourri und Pinkelwurst

Eva Brackelmann ist Vorsitzende des Familienbeirats

  Potpourri und Pinkelwurst | Eva Brackelmann ist Vorsitzende des Familienbeirats

Eva Brackelmann ist seit Juli Vorsitzende des Leipziger Familienbeirates – ein Porträt über ihre ersten 100 Tage im Amt

Muss man verrückt sein, ehrenamtlich tätig zu sein, neben einem Vollzeitjob als Führungskraft? Nicht nur ein bisschen ehrenamtlich. Eva Brackelmann hat das XXL-Paket auf dem Tisch: das Amt der Familienbeiratsvorsitzenden der Stadt Leipzig, parallel zu ihrer Tätigkeit als Geschäftsführerin der Evangelischen Aktionsgemeinschaft für Familienfragen Sachsen. Wer Pinkelwurst – eine niedersächsische Wurstspezialität – mit Bautzner Senf und Grünkohl isst, tickt vielleicht etwas anders. Vielleicht muss man das aber auch, um etwas zu bewirken. Niemand hatte sich freiwillig für das Amt des Vorsitzes vergangenen Juli gemeldet. Eva Brackelmann wurde als sogenannte berufene Bürgerin vorgeschlagen und anschließend durch das Gremium des Beirates zur Vorsitzenden gewählt. Sie nimmt ihr Ehrenamt ernst – zwischen Welt retten und schauen, was realistisch ist. Diese Spannweite kann in der Politik schnell gefährlich werden: utopisch denken und demokratisch ausloten, pragmatisch sein müssen. Eine Strategie, die jedoch nicht selten im reinen Pragmatismus und somit in Unglaubwürdigkeit endet. Brackelmann wirkt pragmatisch und glaubwürdig zugleich. Ambivalenz scheint ihre Stärke zu sein. Sie trägt ein legeres Kleid, sitzt locker gestikulierend im Stuhl und nippt zwischendurch an ihrer Kaffeetasse. Die dunklen Haare wippen beim Nippen leicht mit. Sie könnte auch gut Kunstlehrerin oder Bäckerin sein – jemand, der gleich aufsteht, um das nächste Brot zu backen, oder die Leinwand über den Holzrahmen spannt. Brackelmann verkörpert ein Potpourri an Assoziationen und Bildern, welches gesellschaftlich überholte Werte mit den jeweiligen Pendants verbindet und dadurch wiederum gesellschaftlich zeitgemäße Werte schafft: eine Westdeutsche im Osten; eine Frau in Führungsposition; eine im christlichen Kontext Arbeitende, die sich offen für sexuelle Vielfalt ausspricht.

Von Verden nach Lindenau

Angefangen hat alles in der Reiterstadt Verden, irgendwann in den sechziger Jahren, irgendwo zwischen Bremen und Hannover. Mit Pferden hat Brackelmann heute nicht viel am Hut, dafür mit Fußball, dem SV Lindenau 1848. Als zweites Kind von insgesamt drei Geschwistern wuchs die Verderin und Nicht-Pferderin in einer Arbeiterfamilie auf: gewerkschaftsorientiert und direkt. »Verlass dich nicht auf deinen Ehemann«, hat ihr Vater zu ihr gesagt. Sie war nie abhängig. Auch nicht als zweifache Kleinkind-Mutter später, für westdeutsche Familienkonstellationen ungewöhnlich. Verheiratet ist sie bis heute. Man kann sich gut vorstellen, wie Brackelmann Politikwissenschaft in Bonn studiert hat – mit dem Ziel, etwas zu bewegen. Sie wirkt wie jene Tante, die sich um das Bestmögliche bemüht, den Schokoladenkuchen extra mit Haselnussstreuseln bestückt, weil man das gerne mag. Aber auch sehr direkt sein kann. Ihr Wort hält. Uneitel und forsch. Andere hätten es vielleicht als Lückenfülleramt empfunden, als zweite Wahl-Option, nach fehlender Besetzung in das Familienbeiratsamt zu treten. Der Wahlleipzigerin geht es um das Familienleben in Leipzig, losgelöst von Wahldynamiken: »Unser Leben gestaltet sich nicht als Legislaturperiode.« Die Diskrepanz zwischen berechtigter Demokratiestruktur auf der einen Seite und genauso berechtigter, langfristiger Lebensplanung auf der anderen möchte Brackelmann angehen. Die Stadtverwaltung leiste viel, sei jedoch nach wie vor sehr bürokratisch. Brackelmanns Konzept setze an diesem Punkt an: alle Parteien direkt ansprechen, gleichzeitig den Kontakt zum Bürgermeisteramt nutzen sowie den formalen Verwaltungsweg gehen, indem Informationsvorlagen der Verwaltung und anschließend dem Stadtrat vorgelegt werden. Als Vorsitzende des Familienbeirats koordiniert Brackelmann 18 Beiratsmitglieder aus den Bereichen Universität, Wohlfahrtspflege, Kinderbüro, Stadtwerke, Stadtrat, Stadtelternrat, Stadtjugendring und freie Träger. Diese mit ihren Fachkompetenzen zu moderieren und organisieren sowie Impulse zu geben und Kontakte zur Stadt gleichermaßen wie zu Leipziger Familien zu suchen, ist Brackelmanns Aufgabe. Vier Mal im Jahr kommt der Beirat zusammen.

»Familie darf kein politisches Projekt sein.«

Ihr Ziel für ihre Amtszeit: dem vielfältigen Familienleben eine Stimme geben. »Wir müssen Familien da abholen, wo und wie sie leben.« Konfession sowie Sexualität dürften dabei, aber auch generell keine Rolle spielen. Durch ihre Vereinstätigkeit hat Brackelmann Erfahrungen im Umgang mit Familienbedürfnissen und -strukturen. Man müsse mehr mit Familien reden statt über sie: »Familie darf kein politisches Projekt sein.« Dazu möchte Brackelmann in den einzelnen Stadtteilen vor Ort sein und Gesprächsangebote machen. Ein weiteres Anliegen ist ihr Wunsch nach Austausch unter den Familien in Leipzig, auch und besonders über die Stadtteilgrenzen hinaus. Das könne sie sich gut in Form von Begegnungsräumen zwischen zwei Stadtteilen vorstellen.

Als Nächstes steht für die Beiratsvorsitzende der Familienfreundlichkeitspreis der Stadt Leipzig am 15. Oktober im Rathaus auf dem Plan. Das Ziel für sie ist auch da, den Teilnehmenden sowie Besuchenden zuzuhören. Insgesamt gebe es in Leipzig viele attraktive Angebote für Familien: ob das kostenlose ÖPNV-Ticket der Stadt im ersten Elternjahr (bei dem zu Beginn festgelegt werden muss, ob Mutter oder Vater das ganze Jahr mit dem Baby Bahn fahren möchte, Anm. d. Red.) oder kostenlose oder niedrigschwellige Programme im Bereich Bildung und Soziokultur. Dennoch brauche es mehr. Brackelmann kann sich eine Erweiterung der bisherigen Angebote vorstellen: anstelle eines Ferienpasses ein Familienpass, der ganzjährig gültig wäre. Allerdings gebe es auch weitere Baustellen: ob in der Bildung durch Personalmangel im Kita- und Schulbereich oder besonders im Bereich Wohnen. Hier müsse eine Art Mietpreisbremse geschaffen werden. Besonders für Alleinerziehende, die in Leipzig 22 Prozent aller Eltern ausmachen, ist das Thema Wohnen nicht selten ein Problem. In Lindenau werde seit 2020 – wie in anderen Stadtteilen auch – nach sozialen Lösungen gesucht, beispielsweise in Form der rechtlich bindenden, sogenannten Sozialen Erhaltungssatzung der Stadt, die Luxussanierungen verhindern soll, um Sanierungen im Sinne des bezahlbaren Wohnens zu ermöglichen. Dieses Modell könne sich Brackelmann in mehr Stadtteilen als den bisherigen vorstellen. Aktuelle Modellprojekte der Stadt wie beispielsweise günstige Bauplätze für Familien, die sich kein Eigenheim leisten können in Leipzig, weil allein die Bauplätze unbezahlbar geworden sind, seien ein interessanter Ansatz. Jedoch seien das auch nur punktuelle Lösungen. »Die Frage ist, ob das der einzige Weg ist, um für das Alter vorzusorgen, oder ob man vielleicht das Konzept der Vorsorge anders definieren sollte.« Letzten Endes könnten auf den angebotenen Bauplätzen, die im Schnitt 5.000 Euro Erbpachtzins pro Jahr für rund 700 Quadratmeter kosten, Platz für mehr Familien als nur eine einzige geschaffen werden, zum Beispiel in Mehrgenerationenhäusern.

Insgesamt zählt Leipzig bundesweit zu den am stärksten wachsenden Städten in Bezug auf die Einwohnerzahl. Und die Lebensqualität in der Stadt sei ohnehin sehr gut. Das zu halten und zu verbessern, sei wichtig. Die Aufmerksamkeit der Bürgermeisterin für Jugend, Schule und Demokratie, Vicki Felthaus, hat Brackelmann: »Sie hat sich direkt bei mir gemeldet, das fand ich toll.« Nun gehe es darum, auch den Draht zu den Fraktionen aufzubauen und vor allem Kontakt zu den Familien in den einzelnen Stadtbezirken zu suchen. Zeit bleibt Brackelmann dafür bis 2024. Dann wird der Familienbeirat neu aufgestellt. Kein einfaches Unterfangen. Aber mit Pinkelwurst klappt das vielleicht.

WANDA WAGNER

FOTO: CHRISTIANE GUNDLACH


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