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Stadtleben

Editorial 10/22

Worte zur neuen Ausgabe von Chefredakteur Benjamin Heine

  Editorial 10/22 | Worte zur neuen Ausgabe von Chefredakteur Benjamin Heine

»Im Herbst fallen die Äpfel auf den Rasen.
(Im Herbst fallen die Äpfel auf den Rasen.)

Ich mach Feuer und bewach den Topf.
(Er macht Feuer und bewacht den Topf.)

Welche machen ein und die anderen harken.
(Wir machen ein!)

Und morgen, Kinder, essen wir Kompott!«

– Nils Koppruch, 10. Todestag am 10.10., keine Veranstaltung, weiterhin nur ein Loch in der Welt

Beruhige dich. Es ist scheiße, aber es geht nicht um Leben und Tod – sondern die Hausverwaltung hat dem kreuzer gekündigt, zum 31. März 2022 übrigens, im Februar. Die Geschäftsführung und der Anwalt haben Zeit ausgehandelt (bis 30. September), die Kollegin hat ein neues Domizil für unser Stadtmagazin gefunden (ab 1. Oktober).

Beruhige dich. Du musst die fünfhundert gepackten Umzugskartons nicht selbst hier raus- und dort wieder reintragen. Auch nicht die Möbel, die jetzt hier überall nackig und entsprechend beschämt dastehen. Morgen kommt die Umzugsfirma und verschifft den kreuzer von der Kreuzstraße in die Feinkost. Leg den Leserinnen und Lesern ans Herz, mal einen kreuzer-Spaziergang zu machen an alle bisherigen Redaktionssitze: Naumburger Straße 1, Steinstraße 16, Arndtstraße 63, Schuhmachergäßchen 1–3 (Riquet-Haus), Brühl 54, Büttnerstraße 10, Kreuzstraße 12 und nun also auch Karl-Liebknecht-Straße 36. Weise sie aber darauf hin, dass es bisher an keiner der Adressen eine goldene Tafel gibt mit der Aufschrift: »Hier residierte Leipzigs bestes Stadtmagazin der Welt von … bis …« Sag ihnen, dass das schon noch kommen wird.

Beruhige dich. Ja, die hiesige Internetzeitung hat behauptet, die viel diskutierte Globale-Vorführung von »Ukraine on Fire« im August sei ein »Kulturtipp« im kreuzer gewesen. Und ja, das haben einige Menschen geglaubt, andere sogar abgeschrieben. Es ändert ja aber nichts daran, dass das falsch ist – nicht nur, weil es im kreuzer gar keine »Kulturtipps« gibt, sondern weil die Filmvorführung einfach als Termin im Heft und online gelistet war wie Tausende andere, ohne einen Tipp-Verweis, ohne ein Tagestipp oder Monatstipp zu sein. 

Beruhige dich. Schau dir die Hysterie rund um diese Filmvorführung genau an, stimme nicht in sie ein, zwitschere nicht auch noch du. Sprich mit den Beteiligten und nicht über sie. Ordne die Sache ein, erst mal für dich, dann für die Leserinnen und Leser. Schreib eine Titelgeschichte darüber, unaufgeregt, ausführlich, aber nicht ausufernd.

Beruhige dich. Ignoriere das grinsende Damoklesschwert. Dir fällt schon noch was ein, das du deinem Vater zum runden Geburtstag schenken kannst. Etwas Würdiges, etwas eines erwachsenen Kindes Würdiges, etwas, das neben dem Geschenk von Tante Gabi nicht vor Scham errötet. Der Gedanke daran würde jede und jeden erschlagen. Aber du bist erwachsen, du hast Bewältigungsstrategien. Du zerschneidest den Elefanten. Ach was: Du machst Carpaccio aus ihm, im übertragenen Sinne. Es ist noch ein bisschen Zeit.

Beruhige dich. Es ist noch ein bisschen Zeit, und du kannst ja schlecht das kreuzer-Editorial in einem Salzburger 5-Sterne-Hotel schreiben! Das würden die Leute doch merken! Fahr also erst mal wieder zurück von der Pressereise ins Gastland der kommenden Buchmesse und schreib dann das Editorial, in Leipzig, nachts, kreuzer-mäßig. Langweile die Leserinnen und Leser nicht mit irgendwelchen Pressehintergrunddetails. Sag ihnen nur, dass sie sich auf das Gastland und auf die Buchmesse im April 2023 freuen können. Empfiehl ihnen bei der Gelegenheit gleich noch das logbuch, das diesem kreuzer beiliegt und auf den Bücherherbst schaut, aber auch das uboot, die alljährliche kreuzer-
Beilage zum neuen Uni-Jahr.

Beruhige dich. Du hast noch ein bisschen Platz auf der Seite, du kannst also doch noch eine Anekdote aus Österreich erzählen. Verrate den Leserinnen und Lesern doch, dass Thomas Bernhards Bauernhof in Ohlsdorf/Obernathal ein ganz außergewöhnlicher Ort ist, wunderschön, verstörend, gemütlich, gruselig, und dass es in einem der hübschen, seit 1989 unveränderten Zimmer einen großen Röhrenfernseher gibt, über dem ein Bild von Voltaire hängt, und eine Vitrine, in der unter anderem eine Postkarte liegt, die Bernhard sich dereinst selbst von einer Reise schrieb. Sag den Leserinnen und Lesern, dass das eine gute Idee ist, die sie in den Herbstferien selbst umsetzen können – in der Nach-Urlaubs-Tristesse einen gut gelaunten Gruß vom eigenen Urlaubs-Ich zu bekommen. Oder von ihm zu Hause empfangen zu werden. Verrate den Leserinnen und Lesern, was auf dieser Postkarte von Bernhard an Bernhard steht:

Beruhige dich.

BENJAMIN HEINE

chefredaktion@kreuzer-leipzig.de

Foto: Christiane Gundlach, Gestaltung: Chris Schneider


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