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Politik

»Geflüchtetenunterkünfte sind zutiefst unsichere Orte«

Der Soziologe und Geflüchtetenunterkunfts-Experte Philipp Schäfer im Interview

  »Geflüchtetenunterkünfte sind zutiefst unsichere Orte« | Der Soziologe und Geflüchtetenunterkunfts-Experte Philipp Schäfer im Interview

Philipp Schäfer hat lange zu Geflüchtetenunterkünften in Leipzig geforscht. Im Interview spricht der Soziologe über die Kontinuität der Massenunterbringung und die Sicherheit solcher Einrichtungen.

Herr Schäfer, genau 30 Jahre nach dem Anschlag in Rostock-Lichtenhagen wurde ein Anschlag auf die Geflüchtetenunterkunft in der Leipziger Liliensteinstraße verübt. Zufall?

Wahrscheinlich nicht, nein. Ohne über die Intention der möglichen Täter und Täterinnen zu spekulieren, kann man sagen, dass die Tat ein eindeutiges Zeichen sendet, das da heißt: »Ihr seid nicht willkommen.« Das Perfide an solchen Taten ist, dass sie Traumata reaktivieren können. Das ist neben den körperlichen Schäden, die Menschen bei solchen Übergriffen erleiden können, eine fürchterliche Zumutung. Nicht nur wird das Vergangene wieder hervorgeholt, sondern es werden auch neue Ängste in der Gegenwart und Zukunft geweckt. Deswegen ist es unser aller Verantwortung, wachsam zu bleiben und dem etwas entgegenzusetzen.

Welche Rolle spielt Sicherheit in Zusammenhang mit Gemeinschaftsunterkünften?

Eine große. Im Interesse des Personals, der Betreiber, aber auch der Stadtverwaltung ist es, sowohl Sicherheit im Innern als auch im Außen zu garantieren. Das heißt, dass es einen Wachdienst gibt, der in der Unterkunft für Ordnung sorgen soll. Dass solche Unterkünfte bewacht und umzäunt sind, das sind aber auch nach außen gerichtete Sicherheitsmaßnahmen, denn es gibt wie gesehen immer wieder Übergriffe gegen Unterkünfte. Gleichermaßen soll aber auch der »soziale Frieden« im Wohnumfeld gesichert werden. Die Umzäunung und ein sichtbarer Wachdienst können somit auch als Signal an die Nachbarschaft verstanden werden: »Wir  kümmern uns, wir sorgen dafür, dass hier Recht und Ordnung herrschen.«

Dabei spielt das soziale Umfeld doch auch eine Rolle bei der Sicherheit der Unterkunft?

Gegenüber Unterkünften für Geflüchtete gibt es häufig starke Vorurteile bis offene Ablehnung, die viel mit dem historisch verwurzelten Rassismus in der Gesellschaft zu tun haben. Da spielen dann auch Gefühle rein, im »eigenen« Stadtteil in der Minderheit zu sein. Dass es so etwas wie einen sozialverträglichen Anteil an nicht-deutscher Bevölkerung gibt, eine Art Kipp-Punkt. Das ist natürlich Unsinn, hat für die Bewohnerinnen und Bewohner der Unterkünfte aber Konsequenzen. Wenn man es aus ihrer Perspektive denkt und vor dem Hintergrund der Übergriffe jetzt, bieten diese Orte also natürlich auch Angriffsflächen. Sie sind zutiefst unsichere Orte, obwohl sie selbst aus einer offiziellen Logik doch häufig als Schutzräume gedacht werden.

In Ihrer Arbeit schreiben Sie darüber, welche Rolle Vorstellungen über Geflüchtete bei der Versicherung von Gemeinschaftsunterkünften spielen.

Wenn man Gemeinschaftsunterkünfte versichert, gibt es Kriterien, welche die Sicherheit und Unsicherheit dieser Orte bestimmen helfen sollen. Und je unsicherer sie eingestuft werden, desto höher sind eben die Versicherungssummen. Bei Gemeinschaftsunterkünften wird vor allem der Feuerschutz als besonders schlecht eingestuft, und zwar genauso schlecht wie bei Diskotheken, holzverarbeitendem Gewerbe und Abfallbetrieben. Gemeinschaftsunterkünften wird also unterstellt, dass dort eine genauso hohe Brandgefahr wie in diesen Einrichtungen herrscht.

Liegt das womöglich daran, dass es eben auch vermehrt Brandanschläge gegenüber diesen Orten gibt?

Das liegt nahe. Mehr noch ist es aber die Unterstellung, dass die dort Untergebrachten mit bestimmten Gepflogenheiten, wie man zum Beispiel kocht, nicht vertraut sind und so die Gefahr von Brandschäden in der Küche erhöht ist. Hierbei geht es also auch um Othering, um kulturelles Fremdmachen, das dann wiederum auch ablehnende Haltungen nähren kann.

Durch die Fluchtbewegung im Jahr 2015 schien ein Ausnahmezustand bei der Unterbringung von Neuankömmlingen eingesetzt zu haben. Sie hingegen sagen, im Großen und Ganzen hat sich an der Logik der Massenunterbringung nicht viel verändert.

Nein, die ist nicht neu. Es gibt eine ganz bestimmte Art und Weise, wie wir mit Neuankömmlingen umgehen, und das zeigt, wie tief tradiert diese Logiken der Massenunterbringung sind. In der Torgauer Straße wurden vor der Wende russische Streitkräfte, in der Liliensteinstraße Vertragsarbeiterinnen und -arbeiter untergebracht. Nach der Wende suchte man händeringend nach Unterkünften, und da hat man natürlich auf die zurückgegriffen, die vorher schon genutzt wurden. Heute leben in denselben Einrichtungen Geflüchtete. Es sind oftmals Unterkünfte mit einer Geschichte von Zwangsunterbringung, der Erziehung und Disziplinierung. Dieses disziplinierende Element ist den Gebäuden oft auch architektonisch eingeschrieben: Sie sind ehemalige Heime, Kasernen oder haben etwas Kasernenartiges, liegen häufig abseits eines belebten Stadtraums, und auch das Innere folgt einer hierarchischen Ordnung: Lange Gänge mit links und rechts kleinen Wohneinheiten, ein räumlich getrenntes Personalbüro, eine Wachstube am Eingang, die den Einlass kontrolliert.

Es hat sich also nichts verändert?

In den neunziger Jahren war die Unterbringung von Geflüchteten ein reiner Verwaltungsakt, der kaum öffentliches Interesse bekam. Was dazu führte, dass Geflüchtete beispielsweise in Bauwagensiedlungen und unter miserablen Bedingungen leben mussten. Gewalt gegen People of Color und Andersdenkende war da an der Tagesordnung. Mitte bis Ende der Nullerjahre fand eine gewisse Form der Moralisierung bei der Frage nach der Unterbringung statt. Geflüchtete sollten nicht mehr prinzipiell von der Stadtgesellschaft getrennt, sondern in sie eingegliedert werden. Da ging es dann eher darum: Wie können wir asylsuchende Personen menschenwürdig unterbringen? Von der Praxis der Gemeinschaftsunterbringung hat man sich aber nie ganz verabschiedet. Das hängt unter anderem mit den Bestimmungen des Freistaats zusammen, die eine Gemeinschaftsunterbringung asylsuchender Personen als Regelfall vorsehen. Gleichzeitig traten Anfang der 2010er Jahre aber auch neue Initiativen auf den Plan, die im Netz und auf der Straße Stimmung gegen Geflüchtete und ihre Unterkünfte machten. Da stieg auch die Zahl und Intensität der anti-migrantischen Übergriffe wieder an. Vor dieser jüngeren Geschichte müssen wir auch die Anschläge aus dem August betrachten.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft der Unterbringung von Geflüchteten?

Anschläge wie die von Ende August sollten aus meiner Sicht auch Anlass dafür sein, über die Sinnhaftigkeit solcher Gemeinschaftsunterbringungen nachzudenken, die von einem Teil der Nachbarschaft angefeindet werden und die zur räumlichen Segregation der Bewohnerinnen und Bewohner entscheidend beitragen. Ich weiß, der Wohnungsmarkt in Leipzig hat sich verändert, das ist einfach unglaublich schwer, wohnungssuchende Geflüchtete in Wohnraum zu bringen. Da spielen auch Vorurteile und Rassismus mit rein. Aber ich finde, es wäre an der Zeit, die Idee des selbstbestimmten Wohnens wieder stärker zu forcieren. In dem Zusammenhang spielen Vereine wie die Kontaktstelle Wohnen eine superwichtige Rolle. Das Thema der Migration ist vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine, steigender Lebenskosten und nicht zuletzt der Klimakatastrophe, die die Menschen derzeit stark beschäftigen, in den Hintergrund gerückt. In Zukunft muss es also darum gehen, diese sozialen und ökologischen Fragen wieder zusammenzuführen.

> Philipp Schäfer: Etablierte ProvisorienLeipzig und der lange Sommer der Migration. Frankfurt am Main: Campus 2022. 259 S., 43 €

Foto: Felix Adler


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