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Kultur

Die unaufgearbeitete kulturelle DNA

Galerie für zeitgenössische Kunst zeigt »Jerrycans to Can Jerry«

  Die unaufgearbeitete kulturelle DNA | Galerie für zeitgenössische Kunst zeigt »Jerrycans to Can Jerry«

Bis zum 31. Dezember zeigt die Galerie für zeitgenössische Kunst den Film »Jerrycans to Can Jerry«. Darin erzählt ein Zeitzeuge des Zweiten Weltkriegs in Form eines Benzinkanisters seine Geschichte. Der Künstler Leon Kahane thematisiert mit seinem Film nicht nur die Vergangenheit, sondern kritisiert auch heutige Verstrickungen des Kunstfeldes mit der NS-Vergangenheit.

Ein Kanister mit Gesicht und Pfeife sitzt in einem Ohrensessel, nebenan steht auf einem Tischchen eine Teekanne samt Tasse. Der Kanister erzählt seine Geschichte. Zwischendurch sind Schwarz-weiße Filmsequenzen zu sehen, die scheinbar unendlich lange Kanisterschlangen zeigen.

Der Monitor, auf dem der Film »Jerrycans to Can Jerry« gezeigt wird, steht auf zwanzig gestapelten Kanistern in der Galerie für Zeitgenössische Kunst (GfzK). Der Berliner Künstler Leon Kahane recherchierte die Geschichte dieses Behälters, der ab 1937 von deutschen Firmen für die Wehrmacht und Waffen-SS produziert wurde und von den Kriegsgegnern den Spitznamen Jerrycan (Jerry als Slang für »German«) verpasst bekam.

Gezeigt wurde der Film erstmals vor zwei Jahren beim Berliner Gallery Weekend in der Leipziger Straße. Formal orientiert er sich am zeichnerischen Stil von Allierten-Trickfilmen und inhaltlich steht die Erzählsituation in der Tradition von Zeitzeugeninterviews wie sie auch von Holocaust-Überlebenden bekannt sind. Dabei geht es Kahane in der Erzählung um die vielen Geschichten, aus denen sich Erinnerung zusammensetzt.

Es geht nicht nur um die Verstrickungen des Kunstfeldes in der NS-Vergangenheit, sondern auch um die Kontinuitäten in der Gegenwart: Für Kahane steht der Film für die kulturelle DNA Deutschlands, denn der sprechende Kanister verweist auf die damals in Berlin in der Nähe befindliche Kunstsammlung von Julia Stoschek. Die Kunstsammlerin konzentriert sich auf zeitbasierte Kunstwerke, weil sie »ein Bild der kulturellen Situation und sozialen Bedingungen meiner Generation zeichnen«, so Stoschek auf der Homepage ihrer Sammlung. Sich selbst beschreibt sie dort »als eine philanthropische Produzentin«. Auf der Homepage finden sich auch »Informationen zur Brose Gruppe (gegr. 1908) während der NS-Zeit« und damit wären wir beim Kanister. Denn Stoschek ist die Urenkelin des Firmengründers Max Brose, der ab 1933 NSDAP-Mitglied und später Wehrwirtschaftsführer war, wie auch die Väter von Gunter Sachs, Kurt Biedenkopf oder Hannelore Kohl. Stoscheks Privatvermögen wird auf eine Milliarde Euro geschätzt, sie ist Gesellschafterin der Brose Gruppe.

Im Coburger Werk ließ Brose den sogenannten Wehrmachtskanister produzieren. Auf der Homepage taucht der Kanister nicht auf, hier ist von »Rüstungsgütern« die Rede, für deren Produktion »bis zu 260 staatlich zugeteilte Zwangsarbeiter*innen« tätig waren. Nach 1945 wurde Max Brose als Mitläufer eingestuft. Das Unternehmen wuchs bis zu seinem Tod 1968 auf 1.000 Mitarbeiter und 35 Millionen DM Umsatz an. 2020 wird der Umsatz mit fünf Milliarden Euro angegeben.

2008 gab das Unternehmen eine Publikation zum Firmengründer heraus und 2000 zahlte sie Gelder in die Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft zur Entschädigung der ehemaligen Zwangsarbeiter ein. Damit scheint das Kapitel für die Kunstsammlerin Stoschek auch abgeschlossen, wären da nicht Kunstschaffende, die sich dann doch ein bisschen mehr Haltung wünschen. Und die Auffassung vertreten, dass es vielleicht auch und besonders, wenn sich eine Sammlerin um »soziale Bedingungen« kümmern möchte, einer anderen, proaktive Haltung zu Zwangsarbeit und der Aufarbeitung bedarf, die auch das eigene Vermögen kritisch betrachtet.

Nach der Präsentation von »Jerrycans to Can Jerry« im Kunstfeld greift Jan Böhmermann das Thema auf und so zieht es größere Bahnen. In diesem Sommer gab Stoschek dem Spiegel ein Interview. Darin ist zu lesen, dass sie sich keineswegs in einer Form von Schuld sieht und die von ihr gesammelten Kunstschaffenden ja wohl auch nicht, sonst wären sie nicht in der Sammlung. Darunter ist Hito Steyerl, die am 24. November in der GfZK ihre Geschichte mit der Julia Stoschek-Sammlung erzählt. Sie kaufte ihr Werk aus der Sammlung heraus. Hinein gelangte es, weil Stoschek die Installation von Steyerl im Deutschen Pavillon bei der Venedig Biennale 2015 bezahlt hatte.

Steyerl wollte nicht Teil einer solchen Haltung sein und sieht dies nicht nur im vorliegenden Fall, sondern fragt nach dem heute noch im Kunstfeld befindlichen NS-Geld. Sie konstatiert, dass das Kunstfeld viel zu langsam die eigenen Geschichten und Verstrickungen aufarbeitet. Im Hinblick auf Fußball hält sie fest, dass die Ultras viel schneller Kritik üben als die Kunstschaffenden an den bestehenden Verhältnissen: »Wir sind die absoluten Loser.«

Die Zeit ist also reif, um – und das wäre eine Rolle der Kunstsammlerin gewesen – mit dem familiären Erbe so umzugehen, dass eine zeitgemäße Erinnerungskultur entsteht und die Biografien derer, die die Kanister in Coburg produzieren mussten, recherchiert werden. Denn sie bilden die Grundlage für ihren heutigen Besitz.

»Jerrycans to Can Jerry«, Galerie für Zeitgenössische Kunst, bis 31.12.2022


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