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Politik

Straßenkampf vom Schreibtisch

Das Leipzige Ordnungsamt verfolgt eine neue Linie: Spontanversammlungen werden nur noch selten genehmigt.

  Straßenkampf vom Schreibtisch | Das Leipzige Ordnungsamt verfolgt eine neue Linie: Spontanversammlungen werden nur noch selten genehmigt.

Mitte August kommt es im Rahmen der Globale am Rande der Vorführung eines Putin-freundlichen Propagandafilms zu spontanem Gegenprotest. Damals beginnen Trommlerinnen rund um den Filmbeginn gegen 21 Uhr, gemeinsam mit dem Künstlerkollektiv Óstov und Einzelpersonen, den Film kritisch zu begleiten. Wenig später eskaliert die Situation und es gibt gewaltvolle Szenen. Die Situation beruhigt sich aber schließlich. Der Film kann weiter aufgeführt werden. Auch die Trommelgruppe begleitet die Veranstaltung weiter in Hör- und Sichtweite. Die Lage ist entspannt.
Doch kurz darauf treffen behelmte Bereitschaftspolizisten samt dem Ordnungsamt ein. Vom Gegenprotest wird eine Spontanversammlung angezeigt. Kurz vor 21.30 Uhr ist diese noch nicht beschieden. Im Rahmen der »Gefahrenabwehr« droht ein Polizeibeamter, die Trommeln einzuziehen. Die Demonstrierenden hören daraufhin auf zu trommeln und rufen: »Es gibt kein Recht auf Putin-Propaganda«. Weitere 30 Minuten später will die Polizei die Personalien der Trommelgruppe aufnehmen. Als diese sich unter Berufung auf das Versammlungsrecht weigert, wird Gewalt gegen sie angewendet. Einem Journalisten, der die Situation filmt, wird von einem Polizisten das Handy aus der Hand geschlagen. Der kreuzer möchte damals vom Ordnungsamt wissen: »Ist die Spontankundgebung inzwischen angemeldet und beauftragt? Hier wird gerade Gewalt gegen Teilnehmende und Presse ausgeübt.« Ein Mitarbeiter des Ordnungsamtes quittiert knapp: »Nein. Dafür haben wir grade keine Zeit.«

Die Geschehnisse und Hintergründe wurden in der Titelgeschichte der Oktoberausgabe des kreuzer dargelegt. Was darin aber nicht näher beleuchtet wurde, ist die Rolle des Ordnungsamtes. Dabei kommt es anlässlich der sogenannten Montagsdemonstrationen mittlerweile fast wöchentlich zu ähnlichen Bildern in Leipzig: Personen werden gewaltsam von der Straße entfernt, während sie: »Ich möchte eine Versammlung anmelden« rufen. Einige Beispiele aus der jüngsten Vergangenheit:
Am 31. Oktober werden mehrere kleine Spontanversammlungen am Neuen Rathaus gewaltsam geräumt. Eine größere wird eingekesselt, die Teilnehmenden werden einer erkennungsdienstlichen Behandlung zugeführt. Das Ordnungsamt lässt über den Lautsprecherwagen der Polizei verkünden, dass jede weitere Spontanversammlung »strafrechtlich verfolgt« werde.
Am 7. November ziehen Demonstrierende zwei Tage vor dem Gedenken an die Novemberpogrome um den Ring. Ursprünglich wird ihnen von der Versammlungsbehörde die Verwendung von Fackeln genehmigt. Als der öffentliche Druck steigt, wird ihnen die Nutzung versagt. Als der Ring zudem von Teilnehmenden einer spontanen Kunstaktion blockiert wird, möchte das Ordnungsamt die Blockade räumen lassen. Entgegen seinem Willen kommt es aber nicht dazu. Immerhin dürften einige Hundert Menschen beteiligt sein. Auch etliche Leipziger Lokal- und Landespolitikerinnen und -politiker. Offenbar kann die Polizei die Situation realistischer einschätzen und ist sich der Schwierigkeit des Unterfangens bewusst. Die rechtsextremen Demonstrierenden drehen schließlich um.

Wenige Tage darauf wird Sachsens Innenminister Armin Schuster (CDU) zu dieser Blockade im Landtag befragt. Er erklärt: »Ich freue mich, dass die Lage kommunikativ gelöst wurde.« Völlig konträr proklamierte Ordnungsbürgermeister Heiko Rosenthal (Linke) öffentlich im Leipziger Stadtrat einen Tag zuvor: »Bei einer Spontanversammlung muss ich keine Anmeldung aufnehmen.«
»Das Versammlungsrecht ist ein sehr kommunikatives Rechtsgebiet. Es geht immer darum, eine Lösung mit den Beteiligten zu finden, Optionen auszuloten«, stellt Martin Sirrenberg im Juli in der LVZ fest. Er war bis Ende März stellvertretender Sachgebietsleiter Versammlungsrecht in Leipzig. Inzwischen ist er Bürgeramtsleiter in Machern. Ein Verlust für Leipzig – auch für Beschäftigte des hiesigen Ordnungsamtes.
Eine Mitarbeiterin des Ordnungsamts, die anonym bleiben möchte, beschreibt dem kreuzer die aktuelle Situation in ihrer Behörde folgendermaßen: »Der Abgang von Personal mit Herz und Sachverstand offenbart lediglich strukturelle Mängel innerhalb des Ordnungsamtes. Den ungeschulten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Außendienst ist dabei kein Vorwurf zu machen. Das Ordnungsamt hat weder aktuelle Geschäftsberichte noch eine funktionale Geschäftsstelle. Die Abteilungsleitungen sind in der Überzahl interimsmäßig besetzt. Einzelne Abteilungen, wie etwa die Ausländerbehörde, sind unterbesetzt. Es fehlt an einer Führungsidee, der Auswahl von Mitarbeitenden mit den erforderlichen Softskills.«

Der letzte Geschäftsbericht aus dem Jahr 2020 scheint tatsächlich überholt – dort wird erkannt, »dass beschränkende Verwaltungsakte […] maßgebliche Eingriffe in die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürgern darstellen«. Von dem »besonders [hohen] Anspruch an die verbriefte Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns der Sicherheitsbehörde« ist auf der Straße nichts zu erkennen.
Das Aktionsnetzwerk Leipzig nimmt Platz prüft gerade Rechtsmittel. Im Fall des verhinderten Protests gegen die Globale wird Klage eingereicht. Die neu gegründete Gruppe Eltern gegen Polizeigewalt aus Leipzig proklamiert auf Twitter: »Wir haben nicht nur ein Polizeiproblem und ein Justizproblem, sondern auch ein Verwaltungsproblem in Sachsen.« Die Stadt hat sich zur kreuzer-Anfrage zum Thema bis Redaktionsschluss nicht geäußert.


Titelfoto: Symbolfoto. Marco Brás dos Santos.


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1 Kommentar(e)

123 16.12.2022 | um 17:36 Uhr

Das Problem ist sicherlich vielschichtig! Viele „Ordnungsbehörden“ der Stadt sind subjektiv unterbesetzt und können bis auf die grundlegenden Aufgaben kaum noch mehr bearbeiten! Die Stadt Leipzig wuchs, das Personal aber nicht im gleichen Maß. Abgesehen von irgendwelchen neuen öffentlichkeitswirksamen Aufgaben und die Neueinstellungen hier. Auf den Punktgebracht: Wachstum der Stadt ohne Personalwachstum, Generationswechsel und Neuerarbeitung von Erfahrungen was sicherlich auch für eine Verlangsamung der Bearbeitung von Vorgängen bedeutet, neue zusätzlichen Aufgaben, Gesetzgeber vereinfacht vieles und gibt den Bürger mehr Verantwortung was aber gleichermaßen auch eine höhere aktive Kontrolle durch die Behörden bedeutet (z.B. Gastro: früher Genehmigungsbedürftig bei der entsprechenden geprüft wurde - heute nur Anzeigepflicht), bürgerfreundliches Beschwerdeportal was zu einem positiv aber zum anderen auch enorme Mehrarbeit bedeutet (die Anzeige übers Twitter-Team inklusive), Reduzierung der Arbeitszeit von 40 auf 39 ohne Aufstockung des Personals, Abkommandierung von Personal für Flüchtlingsbearbeitung oder Corona-Kontrollen, tlw. hoher Krankenstand, Probleme geeignetes Personal als Ersatz zu finden…… Für vieles was in Leipziger Behörden nicht gut läuft ist im Grunde immer das gleiche Schuld. Zu wenig Personal!!